Der fliegende Popstar

Foto: Jörg Spaniol

Für Profi-Vogelgucker ist der Steinadler das, was Mozarts „Kleine Nachtmusik“ für Klassikfreunde ist: schön und gut, aber fast schon peinlich populär. Netterweise zeigen sich die Riesenvögel trotzdem noch dem Publikum. Und das liebt die „Adlerwanderungen“ im Hintersteiner Tal.

Mit einem satten „Klick, Klack“ rastet das Carbonstativ ein. Henning Werth, Biologe im Naturschutzgebiet Allgäuer Hochalpen, montiert das monströse Fernglas, fokussiert kurz und winkt seine sieben Gäste zufrieden zum Okular. Treffer im ersten Versuch, mit einhundertfacher Vergrößerung. Auf dem etwa einen Kilometer entfernten Gratrücken, frei gegen den blauen Himmel sichtbar, hocken zwei braune Riesenvögel so unbeweglich in der Sonne, als würden sie dafür bezahlt, sich von Naturfreunden betrachten zu lassen. Das Steinadler-Paar vom Hintersteiner Tal sitzt da, wo es bei diesem Wetter gerne sitzt und keiner von beiden macht Anstalten, sich als „König der Lüfte“ aufzuspielen. Eigentlich könnten wir jetzt wieder eine Dreiviertelstunde zurück ins Tal stapfen und auf den nächsten Bus warten. Adler gesehen, mission accomplished.

Aber jetzt heimgehen? Nichts da. Der Blick auf die weit entfernten Greifvögel ist für die kleine Gruppe nicht das erlösende Ziel nach langem Marsch, sondern der lebendige Auslöser für Fragen. Wer im Winter bis in den Talschluss südlich von Hindelang gestapft ist, will nicht nur Sehen, sondern auch Wissen: wieviele Adler gibt es hier, was fressen sie, wo nisten sie? Henning Werth hat jede Antwort, und weil die wärmende Frühlingssonne es mittlerweile in den tief verschneiten Almboden geschafft hat, können die Zuhörer staunen, ohne zu frieren: Das Paar ist eines von nur vierzig bis fünfzig Steinadlerpaaren in Deutschland. Es beherrscht den Luftraum über diesem Tal schon seit Jahren, und zwar – hier muss sich der große Mann mit dem Lockenkopf einmal rundum drehen – von der blauschattigen Schrofenwand gegenüber bis zu den langsam ausapernden Hochweiden direkt vor uns. 40 Quadratkilometer Naturschutzgebiet vom Feinsten, voll mit Gämsen, Murmeltieren, Rotwild.
Und dann geht es in die Tiefen des Adlerlebens. Wie es denn so aussieht mit der ehelichen Treue bei Adlers, will eine ältere Dame wissen, wie ein Fünf-Kilo-Vogel eine 50-Kilo-Gams erlegt, fragt ihr Begleiter. Vogelkundler Werth glüht mittlerweile vor Engagement, wir lernen Vokabeln wie „Fremdadler“, „Fallwild“ und „Balzgirlande“. Kontrollblick ins Okular: die Adler sitzen noch. Vielleicht sind sie angekettet?

Der Adler ist der Popstar unter den Bewohnern des Schutzgebietes. Während der Sommersaison gehört die Adlerwanderung zum regelmäßigen Wochenprogramm, mit bis zu 120 Teilnehmern. Wir sind nur sieben, und so kommt Vogelkundler Werth vom Adler zum Auerhahn und vom Steinwild zum Steinhuhn – einem besonders listenreichen Bewohner übrigens, der sich weder durch Balzrufe vom Band aus der Deckung locken noch in durchfrorenen Nachtwachen sichten liess. Spuren ja, der ein oder andere Schiss auch, aber das war es. Selten und gefährdet, aber noch ohne Popstar-Potenzial. Eine Münze mit stilisierter Steinhuhn-Prägung oder gar ein Bundes-Steinhuhn im Berliner Plenarsaal? Schwierig. Aber nach drei Stunden intensiver Vogel- und Naturkunde wären wir auch dafür zu haben. Oder sogar für das Bundes-Wintergoldhähnchen, den winzigsten aller heimischen Piepmätze. Den legt Werth uns in einem stillen Wald ans Herz, in einem kombinierten Hör- und Sehtest. Diese kleinen Federviecher piepsen so hoch, dass Ältere sie kaum noch hören, und sie sind so winzig, dass man tausend davon zusammentrommeln müsste, um auf das Körpergewicht eines Steinadlers zu kommen. Wenn man ganz still ist und ganz genau hinsieht…

„Jetzt fliegt er!“ ruft da der Senior unserer Wandertruppe und reißt das umgehängte Fernglas hoch. Arme zeigen nach oben, Hände schatten Augen ab, Hirne vergessen den kleinen Piepmatz im Wald. Das Adlerweibchen! Zwei Meter Spannweite! Eine schwarze Silhouette, die von ganz weit oben auf die fuchtelnden Menschen in ihren bunten Jacken schaut. Mit Augen, die aus dem fernen Himmelsblau einzelne Goldplomben in den offen stehenden Mündern sehen könnten. Der Popstar! … fliegt hinter einen scharfen Felsgrat und ward nicht mehr gesehen.

erschienen in:
GEO Saison