Genial, Alter!

Foto: Daniel Simon

„Hätte, hätte, Fahrradkette!“ Normalerweise fällt dieser Ausspruch, um mit einer vertanen Chance abzuschließen. Die Fahrradkette kommt hier leicht herablassend und nur zugunsten des Reimes vor – und das verkennt ihre Bedeutung ganz dramatisch: Die Fahrradkette ist vielleicht das wichtigste Einzelteil, das aus dem snobistischen Sportgerät „Hochrad“ ein ein praktikables und weltumspannendes Verkehrsmittel gemacht hat. Eine vertane Chance? Das Gegenteil. Seit etwa 130 Jahren entkoppelt die Fahrradkette die Fahrgeschwindigkeit vom Radumfang.

Beim Hochrad entsprach eine Kurbelumdrehung einer Radumdrehung, weshalb die Räder immer größer wurden, um mit einigermaßen erträglicher Drehzahl voranzukommen. Die Radgrößen wuchsen bis über 1,60 Meter. Der hohe Schwerpunkt des Fahrers und das damit verbundene Sturzrisiko hätten die Fahrradentwicklung beenden können – wäre da nicht die Fahrradkette gewesen. Sie brachte eine Übersetzung ans Fahrrad, also die Möglichkeit, das angetriebene Rad (in diesem Fall das Hinterrad) schneller zu drehen als das antreibende Rad (hier: das vordere Kettenblatt). Aus einer Übersetzung von Eins zu Eins beim Hochrad wurde so eine Übersetzung von Eins zu (fast) Beliebig. Damit konnte der Radler zwischen statt über den Rädern sitzen und endlich anhalten, ohne vom hohen Stahlroß steigen zu müssen. Außerdem wirkten dank Kette die Antriebskräfte nicht ins gelenkte Vorderrad. Die neue Generation Fahrrad hieß „Niederrad“ oder treffender – und der englischen Herkunft entsprechend – „Safety Bicycle“.

Handgefeilte Kettenglieder

England spielte am Ende des 19. Jahrhunderts die entscheidende Rolle in der Fahrradtechnik, und daher stammt ursprünglich auch unser Exponat des Deutschen Museums in München. Gebaut wurde es etwa 1889, parallel zu Hochrädern, und gleichzeitig mit dem ersten dreirädrigen Motor-Fahrrad, dem „Patentwagen“ von Carl Benz. Bearbeitungsspuren lassen vermuten, dass seine Kette mit den groben 1-Zoll-Gliedern überwiegend in Handarbeit entstand. Mit einer Übersetzung von 16 Zähnen vorne zu 10 Zähnen hinten und etwas kleineren Rädern als beim modernen Trekkingrad konnten sich die Fahrer schon deutlich oberhalb der 20 Stundenkilometer bewegen – wenn sie sich trauten: Das Rad ist ein „Fixie“ ohne Freilauf, und der schleifende Metall-Löffel auf dem Vorderrad kann die Fahrt eher modulieren als wirksam unterbrechen.

Nur wenige Jahre nach der 1-zölligen Blockkette verbreitete sich die bis heute übliche 1/2-Zoll-Teilung der Kette mit ihren halb so langen Kettengliedern. Diese laufen wesentlich geschmeidiger über die Ritzel als das handwerkliche Modell am „Laming“. Fahrradhistoriker sehen als wichtigen Grund für die grobe Teilung der damaligen Blockkette übrigens weniger eine technische Überzeugung als vielmehr den Kostendruck: Obwohl die Kettenglieder überwiegend in Kinderarbeit gefertigt worden seien, hätte eine feinere Teilung einfach zu hohe Kosten verursacht. Bei der sogenannten Blockkette bestehen die kürzeren inneren Glieder aus massivem Stahl mit Bohrungen, nur außen befinden sich leicht herstellbare Laschen. Erst mit industrieller Fertigung und dem Übergang zur aus gestanzten Laschen vernieteten Bolzen- und Rollenkette fiel dieses Kostenargument weitgehend weg.

Gelenkt per Türscharnier

Ebenso wie die handwerklich gefeilte Kette ist auch der spektakuläre Kreuzrahmen des Rades ein Zeitzeuge der Übergangsphase zwischen Hochrad und modernem Niederrad, zwischen Manufaktur und Industrie. Weil der Luftreifen noch nicht erfunden war und die im Vergleich zum Hochrad kleineren Räder rumpeliger rollten, ist der Rahmen gefedert. Das Gelenk liegt unmittelbar vor dem Sitzrohr, die obere Spiralfeder wird beim Einfedern zusammengedrückt, die untere gedehnt. Die dünnen, silbernen Kettenstreben können nur Zugkräfte übertragen. Das betagte Schätzchen steht nicht für Testfahrten zur Verfügung, doch vermutlich hat die Konstruktion (abgesehen von einer geringen Seitensteifigkeit) halbwegs passabel funktioniert: Mit ähnlicher Drehpunktlage wurden in den 1990er Jahren Mountainbikes gebaut, die Konstruktion heißt „Antriebsschwinge“. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Museumsrad und der ziemlich genau hundert Jahre jüngeren Konstruktion ist jedoch die Position der Sattelstütze: Bei der moderneren Konstruktion gehört sie zum Hauptrahmen, beim Laming thront sie – deutlich ungünstiger – auf der federnden Schwinge, wodurch der Sattel sich beim Einfedern vorwärts bewegt.

Auch Details wie die „Nackensteuerung“ zwischen Rahmen und Gabel sind überholt. Bei aktuellen Rädern führt der Gabelschaft durch das Steuerrohr. Oben und unten im Steuerrohr erleichtern große Wälzlager das Lenken. Beim Laming und etlichen Zeitgenossen dreht sich der Gabelschaft wie an einem Türscharnier vor dem zierlichen vorderen Rahmenende. Das dürfte weder der Rahmensteifigkeit noch den Lenkeigenschaften gutgetan haben.

Solche Schwächen 120 Jahre später zu bemäkeln, wäre freilich sehr besserwisserisch. Man könnte auch schulterzuckend sagen: „Hätte, hätte, Fahrradkette…“ – und voller Ehrfurcht die handwerkliche Schönheit dieser damals avantgardistischen Niederräder bewundern.

erschienen in:
Trekkingbike