Mit wievielen Rennrädern ist man Sammler? Bei Thai Do gibt es keine Fragen mehr: er besitzt über 200 kostbare Maschinen. Und seine eigene Geschichte ist so spannend wie die seiner Räder.
„In Spanien, Italien oder Holland wären sie ganz aus dem Häuschen bei einer Sammlung wie meiner und würden ein Museum bauen. Aber hier denken sie bloß: Der Thai Do ist ein Spinner vor dem Herrn“. Ein Spinner? Vielleicht. Aber ganz bestimmt ist er eine Ausnahmeerscheinung unter den Fahrradsammlern: Thai Do, 46 Jahre alt, kompakt gebaut, schwäbischer Akzent. Außerdem Außendienstler bei Continental, Reihenhausbewohner, Familienvater. Und Fahrradsammler. DER Fahrradsammler, in Großbuchstaben. Der König der Fahrradsammler.
Thai Do besitzt über 200 Rennräder und ein paar Mountainbikes. Das können auch große Fahrradhändler von sich sagen. Aber seine haben etwas, das ihre nicht haben, nämlich eine Geschichte. Es sind Fahrräder, die sich alphabetisch nach ihren Ex-Besitzern ordnen liessen, von Armstrong über Cavendish und Contador bis Ullrich, und vielleicht sogar bis Zülle? Oder sportlich, von Weltmeister über Olympiasieger bis Tour de France, oder chronologisch, als aufgereihte Top-Innovationen aus den letzten 70 Jahren.
Bloß physisch kann er sie nicht sortieren, denn dazu fehlt der Platz. Er kann sie eng gepackt verstauen, mit Mühe und Not. Nur ein paar der Schätzchen stehen im Keller seines Hauses, der große Rest parkt sehr diskret in einer stillgelegten Bäckerei, ruht auf dem Dachboden eines Schweizer Radhändlers oder in seinem vorigen Haus. Manchmal kommt eines ans Licht, dann strahlt es auf einem Messestand oder in einem Schaufenster. Doch die Verstecke der restlichen Sammlung muss niemand kennen. Denn diese Räder sind wertvoll. „Ich weiß nicht, was die Sammlung genau wert ist, denn dazu müsste ich sie verkaufen“ sagt Thai Do, „für Unikate gibt es keine Listenpreise. Aber ich denke, dass ich insgesamt drei- bis vierhunderttausend Euro reingesteckt habe. Und die Preise sind seitdem teilweise ziemlich abgehoben.“
Spätestens an dieser Stelle fängt es im Hirn an zu Rattern: Verdient man im Conti-Außendienst so viel, dass eine solche Summe trotz Eigenheim und Familie übrigbleibt? Woher kommen die Räder eigentlich? Und überhaupt – warum tut jemand so etwas? Die erste Frage beantwortet Thai Do ganz entspannt: „1995 habe ich im Lotto gewonnen. Nicht genug, um mit dem Arbeiten aufzuhören, aber zuviel, um es mal eben für Blödsinn auszugeben.“ Und so ging er zum ersten Mal in seinem Leben mit wirklich vollen Taschen einkaufen.
Dass sein Gewinn sich sukzessive in Fahrräder verwandelt, ist dabei konsequent. Vor Lottogewinn, Familie und 100.000 jährlichen Autokilometern stand eine Triathlonkarriere mit vier Ironman-Starts und Bestzeiten nahe zehn Stunden, sowie dem in der Szene verbreiteten Materialfetischismus: „Als ich 1989 das Duell zwischen Mark Allen und Dave Scott gesehen habe, musste ich Triathlet werden“ erinnert er sich. „Dafür brauchte ich auch unbedingt eine ganz bestimmte Oakley-Brille. Die haben mir Verwandte in den USA besorgt. Ich bin ganz sicher Materialist. Ich wollte immer die geilsten Räder, die besten Sachen. Und ich habe schon immer Sachen gesammelt. Aquarienfische, Playmobilmännchen, Swatchuhren…“
Das klingt schlüssig. Aber gut 200 Topräder an vier Standorten sind eine andere Hausnummer als ein Regalmeter Briefmarken. Und schon über solche Sammelleidenschaften entwickeln Psychologen ihre Theorien. Dass Verlustangst dahinterstecken könnte, ein Wunsch nach Kontrolle, nach Vollständigkeit, sagen Manche. „Thai, könnte da was dran sein?“ möchte man wissen – und hört schließlich eine Kindheitsgeschichte, die schwerer wiegt als der Anblick von ein paar gebrauchten Fahrräder mit bekannten Vorbesitzern.
Thai Do ist mit einem wackligen Boot übers Meer nach Deutschland gekommen. Als Flüchtling, Ende der 70er Jahre. „Boat People“ hießen die Menschen, die nach dem Vietnamkrieg nicht mehr dort leben konnten, wo sie geboren waren. Mit Onkel und Tante kletterte er als Siebenjähriger aus Saigon nachts an Bord, schaukelte tagelang auf dem Meer, wurde schließlich vom deutschen Rettungsschiff „Cap Anamur“ aufgefischt. Landete ohne Eltern, ohne Heimat, ohne Freunde in einem Auffanglager auf der schwäbischen Alb. Eine Pfarrersfamilie, die sich um die Flüchtlinge kümmerte, nahm ihn schließlich zusätzlich ihn zu ihren eigenen drei Kindern auf. Erst fünf Jahre später konnten die Eltern nachkommen. Verluste, Traumata? Unvermeidlich. Abgemildert durch das Glück, das er mit seiner Gastfamilie hatte und ihn behütet zum Schwaben heranwachsen liess – und durch den Sport. „Das hat mich dann vollends integriert“ sagt Thai Do, „Laufen, Skifahren, später Triathlon. Da war es nicht so wichtig, dass ich anders aussah.“
Und Thai Do stürzte sich mit Leib und Seele in die Sportwelt, in ihr Netz aus Kenntnissen und Kontakten. In einer Stunde Autofahrt neben ihm fallen mehr Namen aus der Radsportszene als in einer Woche Tour de France im Fernsehen. Fahrer, Sponsoren, Sportliche Leiter. Er kennt diese Leute wirklich, und sie kennen ihn. Seine Vernetzung spült die rarsten Räder direkt aus den Teamtrucks und Privatkellern in seine Kollektion – er hat nicht einmal ein Ebay-Konto. Ein Rad ohne Geschichte, ohne Kontakt, Verhandlung, Übergabe? Mäßig interessant. Es geht um Leidenschaft, und die kennt keine Grenzen: der von ihm verehrte Rahmenbauer Ernesto Colnago hat ihn kürzlich zu sich eingeladen, nachdem er den Namen von Thai Dos zweijährigem Sohn erfuhr. Der erste ist Anton, zu Ehren des Rennfahrers Toni Romminger. Der zweite lautet Ernesto.