Schneller als der Tod

Foto: Sean Pollock / unsplash

In zwei Minuten abgehoben

Schneller als der Tod: Die Flugrettung hilft Skifahrern, wenn sonst nichts mehr geht. Ein Tag zwischen penibler Routine und angespannter Müdigkeit.

„Zwei Atropin, einmal Adrenalin, drei Beloc?“ „Ja.“ „Dormicum, Disoprivan, Edrantil?“ „Ja.“ Es ist 7:16 Uhr und über dem eingeschneiten Flughafen von Höfen blaut der Tag, während die morgenmüden Finger von Stefanie Freytag kleine Glasampullen drehen. „Suprarenin, Rytmonorm, drei Urbason?“ Notärztin Freytag findet die passenden Buchstaben auf den Etiketten, bejaht, und Bergungsspezialist Christian Kätzler hakt mit quietschendem Filzstift ab. Posten für Posten, Pflaster für Pflaster verwandeln die beiden den Inhalt des Notfallrucksacks in Häkchen auf dem Papier. Räumen alles wieder ein, öffnen die nächste Tasche, checken weiter. „Feincheck“ heißt die Prozedur, und sie ist Teil des täglichen Pflichtprogramms im Rettungs-Stützpunkt „RK-2“ bei Reutte. 20 Kilo lebensrettendes Material, verpackt in einen wasserfesten Rucksack, bereit zum Einsatz zwischen Oberstdorf, Landeck, Garmisch und Marktoberdorf. Bereit, auf dem kürzesten Weg dahin zu fliegen, wo Zufälle oder Dummheiten Menschenleiber beschädigt haben.

Draußen vor dem gut geheizten Dienstcontainer ist währenddessen Christian Brunnlechner über rotglänzende Blechwölbungen dem Rotor der „BK 117“ entgegengestiegen. Brunnlechner ist der Pilot im vierköpfigen Rettungsteam, Dirigent der 1.500 fliegenden Pferdestärken. Sensible Rennpferde, und diese wollen gehätschelt sein. Er schiebt die Motorabdeckung des Hubschraubers zurück und legt Hydraulikleitungen frei. Brunnlechner sucht Ölspuren, drohende Undichtigkeiten, schnippt mit dem Fingernagel gegen Schaugläser und schließt zufrieden die Haube. Grobcheck beendet, und es ist hell geworden über der unberührten Schneedecke der Landebahn. Es kann losgehen. Käme jetzt ein Anruf der Rettungsleitstelle, das Team wäre in zwei Minuten in der Luft.

Etwa siebentausend Quadratkilometer groß ist das Revier des ARA-Luftrettungszentrums Höfen/Reutte. Mit allen Pisten, Straßen, Loipen und Schluchten. Die Station der „Air Rescue Austria“, einer Tochter der Deutschen Rettungsflugwacht, ist kein Dienstleister der Skigebiete, sondern universell einsetzbares Notarztteam. Verkehrsunfälle sind genauso ihr Job wie geborstene Skifahrerknochen oder eingebrochene Eisläufer. Im Sommer ist der rotweiße Helikopter genauso startklar wie im Winter. Immer dann, wenn Hilfe auf dem Landweg zu spät kommen könnte, ruft die Rettungsleitstelle das Team aus der Luft. Klar, dass das im Gebirge besonders oft der Fall ist. Klar auch, dass dieser Job nichts für Stubenhocker ist.

„Neben einer Leiche ist man sehr allein“

Notärztin Stefanie Freytag sieht im Augenblick nicht so aus, wie es das Klischee von einer Frau Doktor erwartet. Kein weißer Kittel mit Gesundheitsschuhen, keine gepflegt-effiziente Geschäftigkeit. Stattdessen ein derber roter Overall, stahlverstärkte Bergschuhe und ein Klettergurt. Arbeitskleidung für zwei Dienst-Tage außerhalb ihrer üblichen Klinikroutine als Anästhesistin in München. Wie für die meisten ihrer Kollegen in Reutte – nur die Piloten sind festangestellt – sind die Tage in der Luftrettung nur Nebenjob. Ein Nebenjob allerdings, der mehr ist als bloßer Nebenverdienst: „Ich könnte auch Urlaubsvertretungen in München machen“ sagt Freytag, „aber das hier ist etwas ganz anderes. Viel spannender, abwechslungsreicher – und mit einer Menge Verantwortung. Man ist total gefordert in so einem Einsatz.“ Gefährlich ist es zudem, genau da auszusteigen, wo andere abstürzen: „Ob ich das in zehn Jahren noch machen möchte, oder wenn ich Kinder hätte, weiß ich nicht.“
Im steilen Schrofengelände mit kompletter Rettungsausrüstung zum Opfer zu kraxeln oder am Seil unter dem Hubschrauber pendelnd punktgenau zu landen – das ist kein billiger Kick, sondern der akute Ernst des Lebens. Nur etwa fünf Prozent der etwa 700 jährlichen Einsätze sind solche spektakulären „Taubergungen“. Doch oft sind es diese Aktionen, die an die Substanz gehen. „Im Sommer sind die Unfälle im Gebirge meistens am schlimmsten“ sagt Pilot Brunnlechner, „da gibt es viele Abstürze, nicht nur die typischen Pistenverletzungen. Und ein Mensch, der bei einem Absturz stirbt, sieht schlimm aus. Wir dürfen ihn nicht transportieren, müssen aber manchmal ewig daneben sitzen, bis die Leiche abgeholt wird. Da ist man sehr alleine.“ Im Dienstcontainer am Rand des Flugfeldes wird es für ein paar Sekunden still. Es könnten die Bilder der Toten sein, die sich in diese Sekunden drängen. Die Bilder derer, bei denen 1500 PS und 240 Stundenkilometer nicht stärker und schneller waren als der Tod.

Um 10:24 Uhr knurren die Mägen. Seit dem Dienstbeginn sind vier Stunden vergangen, zur Hälfte gefüllt mit Materialchecks. Einer macht sich auf zum Metzger um die Ecke, kommt zurück mit einer Tüte Semmeln für Alle und einem silbrig verpackten Brocken. Einen „Eitrigen“ nennen die Tiroler den warmen Leberkäs mit geschmolzenen Käsestücken drin. Eitrig oder nicht, gegessen wird, was auf den Tisch im Wohncontainer kommt. Wer weiß schon, was der Tag noch bringt, wann wieder Zeit zum Essen bleibt? Hätte die Frau eines auf der Loipe kollabierten Rentners, hätten die Eltern eines hart gestürzten Snowboarders Verständnis dafür, dass die Herrschaften von der Rettung noch eben im Restaurant einen Espresso einnehmen, statt in drei Minuten zur Stelle zu sein?

Eine Schicht in Reutte dauert von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. In dieser Zeit begrenzen die vier Container der ARA und die Hubschrauberplattform 50 Meter davor den Bewegungsspielraum des Teams. Einer der weißen Quader enthält Verbrauchsmaterial, der zweite Toilette und Waschmaschine, Wohncontainer drei und vier sind zusammengestellt zu einer 20-Quadratmeter-Zelle für vier Nothelfer in spe, denen allmählich das Warten lang wird. Bergretter Kätzler sichtet am Laptop Urlaubsfotos vom Klettern in Oman, Pilot Brunnlechner werkelt am Bildschirm an einer Fortbildung, Notärztin Freytag rollt sich in der Sitzecke zusammen und Flugretter Harald Mart registriert beiläufig das Geschehen auf dem großen Fernsehschirm, der auf der Anrichte einer ausrangierten „Eiche rustikal“-Einbauküche steht. Dort läuft die nordische Ski-WM in Oberstdorf. „Normalerweise wäre das unser Gebiet“ merkt er enttäuscht an, „aber die haben extra einen Hubschrauber vom Grenzschutz abkommandiert.“

„Das war nicht mal ´ne Unterschenkelfraktur!“

Die Honorare werden bezahlt, ganz egal, ob das Team ausrückt oder nicht. Doch das untätige Warten nervt. „Auch wenn das jetzt makaber klingt: Fasching war super“ erinnert sich der Pilot und streckt sich, „18 Einsätze. Da hat einfach alles gepasst: Ferien, blauer Himmel und die Pisten gerammelt voll!“ Doch heute sind mittlerweile schon sechs Dienststunden verstrichen, ohne dass der Rotor ein einziges Mal gekreist wäre. Gut für die Menschen im Umkreis von 50 Kilometern, doch dröge für die Vier im Zentrum des Kreises.
14:37 Uhr, die achte Stunde. Von der gegenüberliegenden Talwand klingen Hubschraubergeräusche herüber. Pilot und Flugretter schrecken hoch und peilen hinüber. Ein Hubschrauber des Automobilclubs ÖAMTC, des Platzhirsches im österreichischen Rettungs-Revier, nähert sich dem Reutter Krankenhaus. Pilot zu Flugretter: „Das waren die Gelben. Kommen bestimmt von Ehrwald.“ „Wer?“ „Die Alpin Sieben. Mal schauen, wie lange die zum absetzen brauchen.“ Flugretter: „Drei Minuten. Respekt! Muss ich doch gleich mal anrufen, was die da hatten.“ Pilot: „Das war nicht mal ´ne Unterschenkelfraktur. Höchstens ein eingewachsener Zehennagel.“

Um 15:53 Uhr hat die Qual der Untätigkeit auch den schwarzen Humor eingeschläfert. Im Stations-Fernseher flimmert halblaut und unbeachtet das Kontrastprogramm – eine Folge der Notarztserie „Emergency Room“: Zwischen scheppernden Infusionsständern, adretten Praktikantinnen und kotzenden Junkies bahnt sich Fernseh-Notarzt George Clooney energisch seinen Weg. Rettet Leben. Trifft verantwortungsvolle Entscheidungen. Gibt zielsichere Befehle: „Akute Synapsendetonation auf sieben! Schwester, geben Sie 80 Gramm Psylocibin. Mein Gott, hier ist ja heute die Hölle los!“ In diesem Augenblick setzt auf der Couchgarnitur im Container ein diskretes, zweistimmiges Schnarchen ein.

erschienen in:
Süddeutsche Zeitung