Wer bin ich?

Foto: Stefanie Füssenich, Urban Zintel

Hunderttausende Flugkilometer und ein Gentest – der Weg zur Identität kann ganz schön lang sein. Sarah Fischer ist ihn gegangen.

Immer wieder Passkontrollen, und überall fremd: Sarah Fischer heißt so, seit sie eine Woche alt ist. Geboren in Deutschland mit dem falschen Gesicht. Mit einem asiatischen Gesicht. Die Mutter, die sie nicht wollte, legte sie einer deutschen Frau in die Arme und verschwand aus Sarahs Leben. Für ihre Tochter begann damit eine Identitätssuche über viele Jahre und Kontinente.

In der Küche einer nachlässig eingerichteten Münchener Altbauwohnung sitzt eine zierliche Mittdreißigerin mit einem exotischen Gesicht und klappt ihre Finger nacheinander auf: „Angefangen habe ich im Frühjahr 2002 in Burma. Dann kam Thailand, Laos Kambodscha, Vietnam“ – die erste Hand ist voll – „China, Tibet, Hongkong, Malaysia, Philippinen“ – die Finger der zweiten Hand sind abgezählt – „Indonesien. In Japan und Korea war ich nicht, weil mir das zu teuer war. Und Papua-Neuguinea ging logistisch irgendwie nicht.“ Zwei Jahre dauerte der Asientrip, der nahtlos in eine Südamerikareise überging. Sarah Fischer ist mittlerweile mehr gereist als mancher Diplomat und kann sich in einem Dutzend Sprachen verständigen. Sie arbeitet als Diareferentin, Fotografin, Übersetzerin, Fremdenführerin. Eine tatkräftige, kommunikative Frau. Doch wer genau zuhört, ahnt: fast jeder Stempel in ihrem Pass markiert die Station einer langen, belastenden Suche.

Seit über 35 Jahren ist sie fremd auf dieser Erde. Und seit sie reden kann, beantwortet sie die immergleiche Frage: „Wo kommst Du her?“. Sie sagt „Ich bin Deutsche“ und lässt ihr Gegenüber ratlos stehen. Wenn das Gegenüber es wert ist, bekommt es die ehrliche Antwort. Und die ist noch verwirrender. Sie lautet: „Ich weiß es nicht.“ Der deutsche Pass, ihr asiatisches Gesicht und die deutschen Gesichter ihrer Eltern passen einfach nicht zusammen. „Ich bin adoptiert, wie Tausende andere auch“ sagt sie. „Aber ich habe ein Gesicht, mit dem Du täglich auf diesen Umstand gestoßen wirst. Und das lässt mir einfach keinen Frieden – ich muss doch wenigstens wissen, aus welchem Land ich komme!“

Zwischen Hängeregistern durchgerutscht

Es scheint, als sei das Adoptivkind Sarah Fischer durch die schmalen Zwischenräume amtlicher deutscher Hängeregister gerutscht. Verlässliche Akten über ihre Herkunft gibt es nicht. Was sie weiß, verdankt sie dem Blick in den Spiegel und den Berichten ihrer Adoptiveltern. Die Kurzfassung der kolportierten Geschichte: Eine in Deutschland arbeitende asiatische Krankenschwester hat im Schwesternwohnheim eher zufällig Sex mit einem ihr unbekannten Mann. Sie wird schwanger, bekommt das Kind und stillt es eine Woche lang. Doch behalten möchte sie das Baby nicht: es steht ihren Karriereplänen im Weg und ist außerdem unehelich. Eine inakzeptable Schande, soll sie ohne jeden Zweifel erklärt haben. Sarahs Adoptiveltern hatten zu diesem Zeitpunkt nach den üblichen jahrelangen Vorbereitungen ihre Eignung zur Adoption bescheinigt bekommen und sind als Mitarbeiter des Goetheinstitutes weltoffen genug, ein ausländisch aussehendes Kind zu akzeptieren. Nach mehreren kurzen Treffen legt die Unbekannte ihr Kind persönlich dem deutschen Paar in die Arme. Bald darauf verschwindet sie aus Deutschland. Ihr letztes bekanntes Ziel: New Jersey, USA.

Als Sarah 18 Jahre alt ist, nennen die Eltern ihr den Namen der leiblichen Mutter. „Miriam Aguilar“ stand auf der mittlerweile verschwundenen Passkopie und in den spärlichen Adoptionsakten. Ein Fetzen vermeintlicher Gewissheit, der wie ein Fluch über Sarahs Leben flattert und sie nicht zur Ruhe kommen lässt. Es beginnt eine Suche, die ihr Leben prägt. In New Jersey fahndet sie mit Hilfsorganisationen und durchstöbert sie Melderegister. Sie telefoniert sich durch die komplette Liste der Aguilars in New Jersey. Ohne Ergebnis, aber mit neuen Hinweisen: dem Namen nach könnte eine Philippina die Mutter sein. Aber dort, so sagt man ihr, sei der Namen vielleicht auch nicht zu finden, denn philippinische Arbeitsmigranten hätten oft mehrere Pässe vom Schwarzmarkt. Miriam Aguilar? Vielleicht nur ein Phantom. Wieder am Nullpunkt. Wäre Sarah Fischer aus weicherem Holz geschnitzt, hätte sie jetzt aufgegeben. Doch es geht nicht bloß um ein verlorenes Portemonnaie, sondern irgendwie: um das ganze Leben, das mit der einen, riesenhaften Lücke im Selbstbild nicht komplett sein kann.

Eine Reise soll helfen, wo die Akten versagen

Experten wissen um die existenziellen Nöte von Adoptivkindern. Ruth Limmer, Familienpsychologin an der Georg-Simon-Ohm-Hochschule in Nürnberg, sagt: „Es sind immer wieder die selben zwei Dinge, die Adoptierte umtreiben. Zuerst diese immense Zurückweisung durch die leibliche Mutter. Warum hat sie mich weggegeben? Bin ich denn nichts wert? Das lässt viele Adoptierte ruhelos nach Selbstbestätigung suchen. Dazu kommen gesellschaftliche Normen: In Mitteleuropa ist die biologische Abstammung kulturell immer noch sehr wichtig. Rechtlich zeigt sich das in den Vaterschaftstests, im Erbrecht, früher bis hin zur Thronfolge. Bei dieser Frau kommt hinzu, dass ihr die Fremdheit ins Gesicht geschrieben steht. Sie kann das Thema nicht verdrängen. Es liegt nahe, dass jemand in dieser Situation loszieht und einen Ort sucht, an dem er sich weniger fremd fühlt.“
Der Ort heißt Vaterland, Mutterland oder auch Heimat. Sarahs Trip durch Asien beginnt bald nach der fehlgeschlagenen Suche in deutschen und amerikanischen Akten. Der Zeitpunkt ist günstig, denn die Pleite ihres damaligen Arbeitgebers, einer großen Plattenfirma, hat ihre Reisekasse mit 20.000 Euro Abfindung gefüllt. Die Reise durch Asien soll da weiterhelfen, wo die Adoptionsakten und Melderegister versagen. „Ich habe mich in jedem asiatischen Land gefragt: Sehen die aus wie ich? Glauben die, dass ich eine von Ihnen bin? Schmeckt´s mir da? Kann ich die Sprache leicht lernen? In Burma dachte ich eigentlich schon, ich falle garnicht auf, obwohl ich in der Gestik und Mimik europäisch bin. Aber so ganz hat das nicht hingehauen. In China haben sie mich zwar beschimpft, weil sie dachten, dass ich zu eingebildet sei, um mit ihnen chinesisch zu sprechen. Aber ich sehe so nicht aus, das war mir total fremd. Erst als ich wochenlang auf dem tibetischen Plateau unterwegs war, schmutzig und mit sonnenverbranntem Gesicht, da haben mich Tibeter nicht gleich aussortiert. Aber Heimatgefühle? Nein, nicht wirklich. Und sonst haben sie mich sowieso alle gefragt, woher ich denn käme.“
Andere Reisen brachten andere Erkenntnisse zwischen schmerzhaft und lustig: „Vom Kindergarten an bis in die Pubertät habe in die Fresse gekriegt, weil ich anders war. ´Ihr Eskimos fresst doch Schuhsohlen´war da noch relativ harmlos, Prügel gab´s sowieso. Und dann war ich ein knappes Jahr in Alaska. Für die Inuit war ich eine Ausländerin, aber die Touristen von den Kreuzfahrtschiffen sahen in mir eine Eskimofrau. Okay, habe ich mir gedacht – und ihnen teure Karibufelle verkauft.“ Auch in Peru ging sie mit reichlich Sonnenbräune und entsprechendem Dress als Indigena durch. Bei Allen, außer den Indigenas. Und dann, an einem bislang völlig unbeachteten Ende der Welt, geschieht das herzerwärmende Wunder: Passanten sprechen sie ganz selbstverständlich in der Landessprache an. Sie sind verdutzt, dass sie zunächst nichts versteht – auf mongolisch.

Ihr Pferd steht in der Mongolei

Die Bühne einer Mehrzweckhalle in der deutschen Provinz, eine Leinwand hängt herunter, es ist ziemlich dunkel. Nur vom Rednerpult strahlt ein wenig Licht in das Gesicht der Referentin. „Mongolei -Im Land des Dschingis Khan. Eine Live-Diaschau von Sarah Fischer“ steht draußen auf den Plakaten. Tausende von Fotos sind das Ergebnis langer Aufenthalte in ihrer zufällig gefundenen emotionalen Heimat. Sie spricht mongolisch, hat Freunde in der Hauptstadt Ulan Bator und bei den Nomaden der Steppe, irgendwo kaut ihr Mongolenpferd dürres Gras, bis sie wiederkommt. Bevor auch das Licht am Pult ausgeht, leitet sie den Vortrag mit ein paar Worten ein. Dass sie so aussieht wie die Leute auf den Bildern, habe nicht unbedingt etwas zu bedeuten, sagt sie dann: sie sei wahrscheinlich keine Mongolin. Wer genau hinhört, bemerkt einen Kloß im Hals.

Sarah, die Mongolei-Expertin. Sarah, die toughe Abenteurerin. Sarah, die trotzdem Gewissheit braucht, woher sie eigentlich kommt. Ein deutscher Pass und mongolische Herzlichkeit sind angenehm, doch die eigenen Wurzeln ersetzt beides nicht. Sie durchstöbert das Internet und stellt fest: Ahnenforschung per Gen-Analyse ist in den USA ein großes Geschäft mit speziellen Angeboten für jede Einwanderergruppe. Wie sehr und woher ist Barack Obama schwarz, woher kommen meine roten Haare – das sind Fragen, bei denen die Gentechnik weiterhelfen kann. Über 200.000 Menschen umfasst die Datenbank des größten Anbieters „Family Tree DNA“, und der europäische Ableger der Firma, iGenea in der Schweiz, greift auf diese Datenbank zu. Die Abstammung mütterlicherseits sei mit der Methode zu klären, verspricht die Internetseite. Als das Set zur Probenentnahme ankommt, ist ihr Mund vor Aufregung fast zu trocken, um die geforderte Speichelprobe zu entnehmen. Ein Weg, doch noch die Mutter oder wenigstens die genetische Heimat zu finden?

Spurensuche in den Genen
Kriminalistisch arbeitende Gen-Experten wie Andreas Laner vom Münchener Medizinisch-Genetischen Zentrum (MGZ) warnen vor zu großen Hoffnungen: „Die Methode an sich ist etablierter Stand der Forschung. Regionale Herkünfte kann man damit wunderbar nachvollziehen. Aber was individuelle Fragen, etwa die Suche nach dem verschwundenen Onkel in Amerika angeht, fehlt mir da manchmal der Konjunktiv. Eine Verwandtschaft innerhalb der letzten Generationen ist mit der Methode nicht feststellbar. Man sollte es einfach nicht überbewerten – wenn man nur weit genug zurückgeht, sind wir sowieso alle Afrikaner.“

Sieht man genau hin, verspricht auch das kommerzielle DNA-Labor keine konkreten Hinweise auf die Verwandtschaft nach dem 13. Jahrhundert. Doch als nach über zwei Monaten die ersten Ergebnisse per Mail aus den USA eintreffen, wird es der Heimatsuchenden schwindlig vor dem Computer. „Ich wollte die Mail garnicht lesen. Daran habe ich gemerkt, wie wichtig es für mich ist. Aber die Vorab-Ergebnisse habe ich garnicht komplett verstanden.“ Doch dann plumpst ein fetter Umschlag durch den Briefschlitz, mit einer gediegen aussehenden Urkunde darin. Golddruck, Reliefprägung, Weltkarten mit bunten Pfeilen und drei fettgedruckte Zeilen: „Haplogruppe: M. Urvolk: Ozeanische Völker. Ursprungsland: Philippinen.“ Die Philippinen. Ein Land, wo sie niemand für eine Einheimische hielt. Doch Gene lügen nicht, jedenfalls nicht in diesen Fragen. Naturwissenschaftlich gesehen, ist die Identität damit geklärt. Haplogruppe M. Herkunftsland Philippinen. Konkrete Hinweise auf enge, lebende Verwandte oder gar den Vater gibt es nicht. Und Sarah strahlt trotzdem: „Ich habe mich gestern Nacht dabei ertappt, wie ich für die Taxifahrer dieser Welt den Satz ´I am from the Philippines´ geübt habe. Und wie sehr ich darauf warte, das erste Mal die unvermeidliche Frage ´Wo kommst Du her?´ einfach geradeaus zu beantworten – ohne meine ganze, lange Geschichte zu erzählen.“

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Emotion