Carving und Köfte

Foto: Enno Kapitza

Ski fahren in der Türkei – geht das? Und wie! Nur 100 Kilometer südlich von Istanbul schwingt die türkische Upperclass talwärts. An der Liftstation ist das Erlebnis nicht zu Ende: Unten liegt die Großstadt Bursa. Eine Reise zur unbekannten Seite der Türkei.

Diese Geschichte beginnt mit einem Kalenderblatt in einem türkischen Gemüseladen im Münchener Westend. Es ist einer dieser Läden, in denen man auffällt, wenn man weniger als zwei Kilo Spitzpaprika, Tee oder Tomaten kauft. Hinter der Theke wellen sich verblichene Zettel an der Wand, zwei Postkarten – und eben dieser Kalender. Er hängt immer da. Mit monatlich wechselnden Moscheen, Landschaften, Volkstanzgruppen. Bilder, die man übersieht. Doch dann, eines Tages im Januar, als hätte sich die Druckerei vertan: das seltsam unpassende Kalenderbild eines weißen Berges voller lachender Skifahrer! Wo, bitte, soll das sein? Der Gemüsemann zuckt mit den Schultern, hängt den Kalender ab, um besser zu sehen und übersetzt laut: „Skiurlaub am Uludag.“

Und jetzt das: Knapp zwei Flugstunden vom Gemüsehändler entfernt bollern Gestalten wie vom Kalenderbild mit Skistiefeln durch den Schnee eines Parkplatzes. Hinter ihnen: der längst erloschene Vulkan Uludag sowie eine Hotelsiedlung, deren Architektur zwischen Tiroler Bausünden, Airport-Lounges und Edelsozialismus oszilliert. Davor: eine Gerade von Geländewagen mit getönten Scheiben, die selbst in der Schweiz nicht als ärmlich gälte. Drum herum: Schlepplifte, Sessellifte und der Geruch nach Sonnenmilch. Es ist eiskalt im Schatten, auch morgens um elf, und der Skitag kommt langsam in die Gänge. In der Warteschlange sonnt sich die türkische Upperclass – stolze 1.700 Meter über dem nahen Marmara-Meer und weit entfernt vom deutschtürkischen Klischeemix aus Schnauzbärten, Kopftüchern und Gangsterpose.

Seçil schiebt die Gucci-Brille hoch


Wie die Mitmenschen genau aussehen, ist schwer zu sagen, denn zwischen den modischen Skiklamotten, den Mützen und Sonnenbrillen ist wenig Platz für Gesichter. Aber dann lässt sich Seçil nebenan auf den Sitz des Sesselliftes plumpsen. Sie ist um die zwanzig und steckt proper in einem weißen Overall mit Pelzkragen. Auf den Innenrand ihrer Gucci-Brille rieseln ein paar Brösel Wimperntusche, als sie die getönten Scheiben stirnwärts schiebt. Hübsch sieht sie aus. Ja, „of course“ spricht sie englisch, schließlich hat sie ein paar Jahre in den USA gelebt – mit ihrem Mann, by the way, der gerade nach einem Sturz pausieren muss. Skifahren hat sie in Nassfeld in Österreich gelernt, und hier in Uludag sind sie nur fürs Wochenende. Sie peilt den Horizont an, duftet gepflegt und sagt: „Wenn wir richtig skifahren wollen, fahren wir nach Courchevel“, und: „Bye, enjoy yourself!“ Und das ist hier kein Problem. Auf hartem Schnee, auf weichem Schnee, zwischen den Bäumen auch im Pulver. Im Fluß der Schwünge wird die Welt so herrlich scheißegal. Schnee ist international, das entrückte Grinsen der Skifahrer ebenso. Geräumige Pisten, entspannte Menschen.

Foto: Enno Kapitza

Tirol oder Türkei – wen kümmert’s?

Zwei Abfahrten später schwappen dichte Wolken über den 2200 Meter hohen Bergkamm. Die Liftseile verschwinden im undurchdringlichen Himmel. Wind treibt eine Plastikflasche über das Eis. Unten auf der Piste fällt die polyglotte Liftbekanntschaft kieksend auf den Hintern. Und dann zerbröselt die Illusion vom beliebigen Skihang in einem beliebigen Land. Knistern und Fiepen leiten das Ende der Ortslosigkeit ein. Atemholende Stille, dann scheppernder Gesang aus Druckkammer-Lautsprechern: „Allahu akbar…“ Eine Minute lang, mindestens. Mit der Selbstverständlichkeit alpinen Mittagsläutens breitet sich der Gebetsruf der Uludag-Moschee bergwärts aus. Er flutet über planierte Pisten, umspült Liftmasten – und weckt die wenigen Ausländer wie ein Fingerschnipp aus der Hypnose skifahrerischer Routinen.

„Allahu akbar“ scheppert es über die Piste

Skifahren ist in der Türkei auch für die Einheimischen ein eher exotisches Vergnügen. Seit Ende der sechziger Jahre ist das Skigebiet oberhalb der Südküste des Marmara-Meeres in Betrieb. Es gilt als der Topspot für türkische Wintersportler, die über 90 Prozent der Gäste stellen – die wenigen Russen, Griechen, Israelis oder Briten fallen nicht auf. Selbst die perfekt eingekleideten Upperclass-Türken sind keine Skifreaks: fast alle sind auf eher mittelprächtigen Leih-Brettern unterwegs. Doch während für die Türken der Skisport als solcher exotisch ist, sind es für den deutschen Uludag-Touristen eher die Randerscheinungen, die dem Wintersport seinen Zauber verleihen. East meets West am Pistenrand. Am besten ganz unten an der Talstation, wo das Publikum von den Caféterrassen amüsiert den Landsleuten auf den flachen Anfängerpisten zusieht.

In Kinderbüchern gibt es die Gattung der „Wimmelbilder“. Großformatige Bilder voller Menschen, die ganz unterschiedliche Dinge tun und die Fantasie zu vielen Geschichten anstiften: Würdige Herren mit Schnurrbärten und Wollmänteln tragen Skier bergauf, kopftuchtragende Mädchen staksen in schweren Skischuhen laut kichernd ihrem ersten Schwung entgegen. Eine Telefonfirma verteilt alberne gelbe Zipfelmützen. Die Empfänger tragen sie mit Würde. Ein Verkäufer balanciert in einer Vitrine Sesamkringel durch den Schnee, ein anderer verteilt Schokoriegel. Ein halbes Dutzend Pisten-Fotografen knipst die stolzen Anfänger. Skilehrer mit Spiegelbrillen mühen sich um Körperkontakt und Kurventechnik schöner Schülerinnen. Kopftuchfrauen sitzen neben Bognerfrauen hinter zierlichen Teetässchen. Tellergroße Augensymbole gegen den Bösen Blick baumeln an Liftstationen. Hochwirksam, offenbar: Das Team der „Uludag Üniversitesi Ambulansi“ kauert untätig rauchend vor seinem Krankenwagen. Schneetrunkene Heiterkeit, Wintersport als Gesellschaftsspiel.

Dann wird es kalt auf dem Beobachterposten, denn die grauen Wolken lösen sich in eiskalte Flocken auf. Noch einmal rauf und runter, aus Prinzip, dann endet die letzte Abfahrt des Tages im würzigen Rauch eines Grillfeuers. Mitten im Schneegestöber. Es mag sein, dass die Türken den Skisport nicht Ernst nehmen. Aber wenn es ums Grillen geht, kennen sie kein Pardon. Minus zehn Grad, böiger Wind, nadelspitze Flocken. Ein Gartengrill am Straßenrand, ein Campingtisch, ein Grüppchen in Feierlaune. Auf dem Rost duften Hühnerschenkel, in Plastikbechern schwappt Alkoholisches. „He, wo kommt Ihr denn hier? Aus Deutschland? Auch gut – Ihr braucht sicher was zu Trinken!“ Raki und Wasser. Die beiden klaren Flüssigkeiten verwirbeln zu schwindelerregendem Schneeweiß. Es folgen ein Palaver in vielen Sprachen und Geknabber an Gegrilltem, bis die Restvernunft zum Aufbruch mahnt.

Mittendrin ist, wer sich treiben lässt

Tausend Meter unter dem tiefverschneiten Uludag-Ressort schlägt der Besucher hart im türkischen Alltag auf. Die Millionenstadt Bursa liegt unmittelbar am Fuß des Uludag-Gebirges. Nur die dünnen Drähte einer alten Seilbahn und eine schmale Straße verbinden Bursa mit der Welt des noblen Wintersports. Eine Industriestadt mit viel Geschichte und einem fairen Anteil an historischen Gebäuden. Außerhalb des weitverzweigten Basars drängen zu viele, zu laute Autos die Menschen an die Häuser. Grüne Moschee, Karawanserei, Festung sind das touristische Standardprogramm. Doch Jahreszahlen und Fakten sind nur dazu da, der Fremde ihren Zauber zu nehmen. Mittendrin ist, wer sich treiben lässt. Und das ist wunderbar einfach im Strom einer unaufdringlichen Stadt, die nicht vom Tourismus lebt. Unvermeidlich ist die entrückte Perspektive ohnehin, wenn man kein Türkisch spricht. Stunden vergehen wie in einem Film der Sorte „Originalfassung ohne Untertitel“. Gepflegte Konditoreien verkaufen Süßigkeiten, vor offenen Garagen liegen Autoteile auf Wellpappe, Juwelierläden glänzen monochrom golden. Menschen handeln, schachern, scherzen. Die Luft riecht fremd.

Foto: Enno Kapitza

Die nächtliche Zitadelle ragt weit aus dem Getöse der Unterstadt. Schnee liegt auf Palmen, Teehäusern und den Freisitzen der Kebaplokale. Wie eine Slalomstange steht der Turm der Moschee in der 120-Grad-Kurve einer vielspurigen Straße. Über das Dröhnen und Hupen ruft der Muezzin scheppernd zum letzten Gebet des Tages. Zwei Mädchen lassen sich davon nicht stören. Ihre Andacht gilt dem hier unten raren Schnee. Kichernd fotografieren sie sich abwechselnd im verschneiten Park, zupfen Strähnchen an ihre Plätze und bringen mit dem Kamerablitz das stumpfe Grauweiß der Umgebung zum Strahlen. Würden sie ihre Bilder genau betrachten, sähen sie im Hintergrund ein ungewöhnliches, angestrahltes Kuppelgebäude.

Sein Daumen filetiert die Muskelstränge

Nur mit Kraft schwingt die Tür zur Männerabteilung des Thermalbades auf. Rote Kuppeln aus Backstein, Jahrhunderte alt. Ihre Mauern sind dick genug, jeden Alltag abzuwehren. Wenn es hier um „Wellness“ gehen sollte, dann um ihre unverschnörkelte Urform. Männer mit Lendentüchern hocken auf warmen Marmorbänken und begießen sich mit Wasser aus abgegriffenen Messinghähnen. Leises Geplauder, sinnierendes Starren. Wer in Holzsandalen zur Massage schlurft, zieht den Bauch nicht ein. Die Massagebänke sind steinerne Opferaltäre, von denen unterdrückte Laute in die klitschnasse Luft steigen. Ein leises „Uff!“, als die hohle Hand des Masseurs laut zwischen Schultern klatscht, ein unterdrücktes „Aaaaah!“, als sein Daumen Muskelstränge filetiert, als würde er einen großen Fisch ausnehmen.

Foto: Enno Kapitza

Im Nebenraum lösen sich dann Erlebtes und Erlittens endgültig in Dampf auf. Das Gewicht des Vulkans Uludag drückt heißes Wasser aus den Innereien der Erde. Es füllt ein rundes Marmorbecken, vielleicht sechs Meter groß. Männer jeden Alters gleiten hinein und schließen die Augen. Geräuschvolle Stille: Vom Vorraum hallt das Klatschen der Masseurshände. Schwallweise strudelt das vulkanische Wasser ins Becken. Blechschüsseln aus dem Waschbereich scheppern gedämpft. Und dann beginnt Irgendwer zu singen. Ganz leise, und doch raumfüllend. Es ist unmöglich zu sagen, wer es ist. Der mit dem Walross-Schnäuzer? Der junge Typ in der Surfer-Short? Gleichmäßig wie schwerer Dampf verteilt sich der Klang in der triefend nassen Backsteinkuppel. „Merhaba“ sagen sie, wenn ein Bekannter sich niederlässt. Und dann lange Nichts.

erschienen in:
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG