Himmelreich aus Fels und Stein

Foto: Jörg Spaniol

350 Kilometer weit zieht sich der Zanskar-Trek durch den indischen Himalaya. Er führt die Wanderer in weltferne Dörfer und zu weißen Klöstern, durch ein sprödes, dramatisches Land, mitten hinein in die erhabene Einsamkeit der Sechstausender.

„Höhe gewinnen“, so ein Blödsinn: Höhe gewinnt man nicht, die Sprache irrt. Kein Rubbel-Los gibt es, das einen beim Kragen packt und dreihundert Meter höher zwischen den Gebetsfahnen des Hanuma La-Passes wieder absetzt. Höhe erarbeitet man sich. Hart und mit leichtem Schwindelgefühl, weil unter der Passhöhe schon soviel Höhe liegt, auf knapp 5.000 Metern. Wie hart die Arbeit ist, verrät der Umgang mit einem Pferdeapfel, der mit dumpfem „Pluff“ hinter einem Packpferd in den tiefen Staub geplumpst war. Genau dahin, wo der gleichförmige Trott meiner Schritte unweigerlich den nächsten Tritt setzen würde. Egal. Die Mühe, den Fuß neben den dampfenden Haufen zu setzen, erscheint verschwenderisch groß. Weich tritt der Fuß den Dung zusammen und hebt sich zum nächsten Schritt. Höhengewinn? Insgesamt vielleicht acht Zentimeter.

Ein Schritt nur, einer von geschätzten 700.000 Schritten, die zwischen dem Start unseres Treks, dem fast tausendjährigen Kloster Lamayuru, und dem Ziel, einer Barackensiedlung an der Asphaltstraße Richtung Neu-Delhi, liegen dürften. Die Zanskar-Durchquerung im nordindischen Ladakh, so vermeldet ein Reiseveranstalter in seinem Katalog, „zählt zu den großen Gebirgsklassikern der Erde“. 350 Kilometer von Nord nach Süd, quer über ein paar kleinere Himalaya-Ketten und mitten durch ein wildes Land, dessen einzige Straßenverbindung zur Außenwelt eine brüchige Jeep-Piste ist – das klingt schwer nach Gebirge, nach Größe und nach Durchquerung. So etwas hat Charme. Und wenn es ein Klassiker sein soll, muss es ja auch zu schaffen sein. Schließlich ist die Ersteigung des Nanga Parbat kein „Gebirgsklassiker“, eine Wanderung auf die Zugspitze hingegen schon eher. Wen also mitnehmen zum „Gebirgsklassiker“? Vielleicht einen, mit dem man schon ein paar Probetouren in der Zugspitzgegend gemacht hat: Nils, mein Ex-Nachbar, ist konditionell ein Naturtalent. Das Tempo passt. Und – ganz wichtig bei Männern – Keiner muss dem anderen permanent zeigen, wer toller ist.

Foto: Jörg Spaniol

Nepal, ein Sanatorium

Über 25 Jahre ist es her, dass ich die Worte „Ladakh“ und „Zanskar“ zum erstenmal bewusst hörte. Es war in Nepal, unterwegs auf der seinerzeit gerade zwei Jahre geöffneten Annapurna-Runde – inzwischen als „Coca-Cola-Highway“ verspottet und streckenweise asphaltiert. Drei verwegen aussehende Typen hatten von Ladakh und dem Trekking in Zanskar erzählt. Sie kamen gerade von dort und meinten ohne jede Arroganz, Nepal sei dagegen ein Sanatorium. Unendlich rau sei Zanskar, einsam und karg. Und dabei leuchteten ihre Augen.

Zeitsprung in die Gegenwart, Ortswechsel. Jetzt leuchtet die Abendsonne auf die weißen Außenmauern des Klosters Lamayuru und lässt es strahlen wie einen Zuckerwürfel, der auf einem erodierten Dreckhaufen gelandet ist. Lamayuru ist mit seinen 700 Einwohnern der letzte größere Ort im ruhigen, buddhistischen Teil Kaschmirs. Bis Lamayuru kommen israelische Neo-Hippies und amerikanische Altrocker mit ihren retroschicken Enfield-Motorrädern, hier ist die Wendemarke für die meisten europäischen Bildungsreisenden. Einige Kilometer westlich beginnt das unruhige Kaschmir. Noch vor zehn Jahren schlugen dort gelegentlich pakistanische Artilleriegranaten ein.

Auf dem Mäuerchen vor dem Kloster erzeugt die Sonne einen strahlenden Glanz auf der schwarzen Designerbrille von Tashi Angchok, dem Manager des für hiesige Verhältnisse modernen Hotels Niranjana. Tashi Angchok ist der Mann der Stunde, denn Tashi spricht englisch. „Ihr braucht einen Horseman? Wieviel Gepäck habt Ihr, wo wollt Ihr hin?“ Wir haben pro Nase zwanzig Kilo wasserdicht verpackte, bis zum letzten Teebeutel durchkalkulierte Lebensmittel und 15 Kilo persönliche Ausrüstung, wir wollen Zanskar durchqueren – und wir sind nicht böse, dass ihm spontan niemand einfällt, der uns mit ein paar Tragetieren begleiten kann. „Ich höre mich um“ verspricht er. Ein Tag mehr zur Akklimatisation. Noch immer atmet sich die dünne Höhenluft wie ein fremdes Gas.

Viele Kannen Tee und eine knappe Erdumdrehung später steigt ein wettergegerbter Mann schwer bestimmbaren Alters die Erdstufen zu unserem Sitzplatz im Schatten einiger Pappeln empor. Er wendet sich an den Wirt unserer Unterkunft. Der winkt uns herbei, stellt Stühle zusammen, und es beginnen vielköpfige Verhandlungen, in deren Verlauf viele Zahlen durch Finger angezeigt, mehrere Papierservietten bekritzelt und dabei von Kugelschreiberspitzen zerfleddert werden. Es treffen aufeinander: die Sprachen Englisch, Ladakhi und Zanskari. Es kommt hinzu: eine Analphabetenquote von 75 Prozent. Es kommt heraus: ein Vertrag mit vielen krakeligen Signaturen auf einer Papierserviette, letztlich besiegelt durch die feierliche Teilung einer Flasche „Godfather“-Bier. Fünf schmuddelige Teegläser stoßen miteinander an.


Eine Luftmasche im Telefonnetz

Tashi Punchok heißt unser schweigsamer Begleiter für die nächsten zehn Tage, er ist ungefähr sechzig und kein Horse-, sondern ein Donkeyman. Statt der erhofften Pferde schwanken zwei ziemlich verschlissen aussehende Eselchen unter der Bürde unserer Lebensmittelvorräte durch ein ausgetrocknetes Flussbett. Am Gegenufer verschwinden nach wenigen Minuten Lamayurus Klosterwürfel und die Schotterstraße nach Leh. „Achtung!“, könnte hier ein Schild warnen, „Sie verlassen jetzt endgültig die westliche Zivilisation. Motorleistung, Kontostand und Mobiltelefon verlieren ab sofort jegliche Bedeutung!“

Foto: Jörg Spaniol

Unser Zielgebiet ist eine gigantische Luftmasche im weltumspannenden Telefon- und Straßennetz. Die touristische Infrastruktur beschränkt sich auf Teezelte (Trockensteinmauern mit darüber gespannten Armee-Fallschirmen) im Tagesmarsch-Abstand und ihr Sortiment aus Keksen und der immergleichen Sorte Tütensuppe. Und so ist der lange Marsch durch Zanskar für den weitaus größten Teil der Touristen eine kleine, autarke Expedition: Organisierte Gruppen, zehn bis 20 Trekker stark, begleitet von noch einmal sovielen Führern und Köchen, Treibern und Tieren machen das Gros der Reisenden aus. Nicht selten ist so eine Reisegruppe größer als die Bevölkerung des Weilers, auf dessen kargen Weiden die Tragetiere nachts grasen. Ein Problem angesichts des so seltenen Grüns: weniger als ein Prozent der Fläche sind landwirtschaftlich nutzbar.
Die Camping-Gebühr, allabendlich eingesammelt, kann die abgegrasten Weiden nur teilweise kompensieren – die nächste Möglichkeit, Geld gegen Ware zu tauschen, ist im Inneren Zanskars bis zu fünf Tagesmärsche entfernt. Shopping? Einmal im Jahr. Dann treiben die Männer ihre Lasttiere tagelang durch flirrend-heiße Schluchten und über eisige Pässe zum nächsten Händler, zurren dort Säcke voll mit Reis, Salz, Zucker, Tee und Linsen an den hölzernen Tragesätteln fest und marschieren zurück in ihr sprödes Reich hinter den Bergen.
In das sind wir mittlerweile tief eingedrungen. Sind mit unwillkürlich eingezogenem Kopf durch kilometertief eingeschnittene Schluchten geschlichen, deren lose Geröllhänge bei starkem Regen zum tödlichen Trommelfeuer würden. Sind sanft ansteigenden Pfaden auf 5000 Meter Höhe gefolgt, um jenseits der oben flatternden Gebetsfahnen steil in ein weiteres Tal hinabzustampfen. Immer tiefer hinein in die endlosen, rotbraunen Falten der Erdkruste. Hinein in einen seltsamen Zustand weltfernen Gleichmuts, den geistigen Horizont über weite Strecken reduziert auf das Nächstliegende: Steine.

Lawinenkegel lösen sich im Tosen auf

Schon nach wenigen Tagen hört das Hirn auf, Bilder, Gefühle oder Projekte des Alltags sinnlos hin und her zu wälzen. Die unmittelbare Aufmerksamkeit ist damit beschäftigt, den Körper vor dem Stolpern und Stürzen zu bewahren, die weiter reichenden Gedanken reichen gerade noch zur Planung von Tagesetappen, das Empfinden ist mit dem Erschaudern angesichts der Landschaft und mit der Kontrolle einwandfreier Körperfunktion ausgelastet. Zu hoher Puls? Schlecht. Tempo reduzieren. Hunger? Schlecht. Sofort anhalten und händeweise Studentenfutter einwerfen. Durst? Sehr schlecht. Sofort nachtanken – was kein Problem ist.

Ladakhs Hochwüste ist nicht trocken, sie ist nur unfruchtbar. Lauter als das Dauerrauschen der Autobahnen im Ruhrgebiet begleitet das Getöse ungezähmter Bergflüsse den ruppigen Pfad. Sie haben tiefe Canyons in die Falten des Himalaya gefräst. Graubraun wie Betonbrühe strudelt die Essenz schmelzender Gletscher und Schneefelder von den Gipfeln Richtung Indus. Auch die klaren Bäche der wenigen Quellen oder die silbriggrauen Rinnsale verschwindender Lawinenkegel lösen sich im Tosen auf. Und gelegentlich unterbricht die Trinkflasche eines Trekkers ihr strudelndes Fließen. Desinfektionstropfen dazu, und weitergehen. Essen. Trinken. Schlafen. Und gehen, gehen, gehen. Das Leben kann so einfach sein.

Foto: Jörg Spaniol

Als nach zehn Tagen einfachen Wanderlebens unser Vertrag mit Tashi endet, sind wir in Padum, im Herzen Zanskars angekommen. Wir wissen jetzt, dass eine Eselsbrücke sich durch narrensichere Begehbarkeit auszeichnet, weil man die Tiere sonst darüberschieben oder -zerren muss. Und wir wissen, dass ein englisch sprechender Begleiter unsere Neugier auf das Land besser stillen könnte. Einer wie Tenzing Nezko. Kennzeichen: Rote Baseballkappe, ein freundliches Gesicht und zwei zuverlässige Pferde. Zähes Verhandeln, dann schaukeln unsere halbleer gegessenen Futtersäcke auf den Pferderücken weiter südwärts. Immer öfter plumpsen sie abends auf zaghaft-zähes Grün statt in grauen Staub. Wir nähern uns einem Gebiet, in das der Monsun gelegentlich zornige Güsse schickt.

Zartbitter gegen Yak-Käse

Und wir nähern uns Tangzo. Hier lebt Tenzing, wenn er nicht gerade Touristengepäck befördert – und das hat er jetzt seit 28 Tagen getan, ohne jeden Kontakt zur Frau und den zwei kleinen Töchtern. Einmal Zanskar-Durchquerung hin und zurück, das ist seine halbe Jahresdosis. Sie macht ihn mit geschätzten 1000 Euro Jahreseinkommen zu einem, der sich etwas leisten kann. Ein Solar-Panel etwa, das Strom für eine Glühlampe und ein Transistorradio liefert. Oder Geschenke für seine Frau.

Die blickt kaum von der Feldarbeit auf, als wir mit Tenzing beim Haus ankommen. Keine Umarmung, kein Freudenschrei – immerhin kommt er überraschend? Es scheint, als würde heiter-spontane Zartheit nicht in diese grobe Umgebung passen. Doch ihre Wangen glühen, als Tenzing später kleine silberne Opferschälchen aus dem Packpapier schält, Utensilien für den Hausaltar.

Foto: Jörg Spaniol

Wir sind zu Gast. Um den Ofen kauernd, haben wir verzierte Teigtaschen gegessen, süßen und salzigen Tee getrunken und insgeheim versucht, uns in dieses Leben hineinzudenken. Jetzt ist es Zeit für den Nachtisch. Nils geht durch die Nacht zum Zelt und holt unsere Beiträge zum deutsch-zanskarischen Gastro-Gipfel. Runde eins: jeder bekommt ein Stück Zartbitterschokolade. Tenzing und seine immer zahlreicher anwesende Familie stecken es vorsichtig in den Mund, die meisten spucken es diskret wieder aus. Runde zwei: wir kosten süßsauren, getrockneten Yak-Käse. Nicht schlecht – besser jedenfalls als die doch sehr ranzige Butter im Buttertee. Runde drei, wir sind dran und ziehen einen großen Brocken Tiroler Speck und ein Taschenmesser hervor. „Was ist das?“ fragt Tenzing, bevor er zubeißt. „Schweinefleisch“ sage ich, und Tenzing genießt es. Es folgen saurer Frischkäse und viele Runden Tee. Für hiesige Verhältnisse dürfte der Abend einer Fressorgie gleichgekommen sein.

Für uns ist er der richtige Einstieg in einen Ruhetag. In einer Wiese voller Edelweiss, zwischen kunstvoll angelegten Terassen mit seidig glänzenden Gerstenhalmen leuchtet das gelbe Zelt in den harten Strahlen der Hochgebirgssonne. Die Schatten wirken wie ausgeschnitten, der UV-Anteil des Lichtes scheint sichtbar. In Ladakh, sagt eine häufig wiederholte Trekker-Weisheit, kann man sich mit dem Kopf in der Sonne einen Sonnenstich holen, während die Füße im Schatten Frostbeulen bekommen. Wir lesen, sinnieren im Schatten des hochgespannten Vorzeltes. Geborgen in einer entlegenen Oase des Himalaya, nur noch wenige Tage vom Ziel entfernt.

Sonnenstich und Frostbeulen

„Nils“, unterbreche ich die Lektüre des Freundes, „es heißt doch immer, dass Reisen bildet. Oder wenigstens Erfahrungen dabei rumkommen, die man in seinem Alltag irgendwo einbauen kann. Was, bitte, lernen wir hier fürs Leben?“ Schweigen. Intensive Betrachtung der nackten, geschundenen Zehen. Wir einigen uns darauf, dass es großartig ist, hier zu sein. Und darauf, dass diese Reise ein eingekapseltes Stück Existenz ist, kulturell nicht anschlussfähig an ein „Davor“ oder „Danach“. Ein „Paralleluniversum“. Und was man sonst noch so sagt, wenn man Zeit hat.

Foto: Jörg Spaniol

Vier Tage später liegt der schneebedeckte Pass hinter uns, der Tangzo ein langes Winterhalbjahr von der Außenwelt trennt. Wir sind geschafft von der Höhe, vom Tempo, von irgendwelchen Viren und den langen Marschtagen. Wollen raus aus der asketischen Pracht karger Horizonte, wollen duschen, Grün sehen, fett essen, in weichen Betten liegen – und sei es um den Preis eines letzten Gewaltmarsches. „Tenzing, wie weit ist es bis Darsha? Können wir das in acht Stunden schaffen, oder sind es mehr als zehn Stunden?“ Und Tenzing, der Mann aus Zanskar, streckt uns verlegen lächelnd die Zunge raus und den Arm entgegen. Sagt: „Ich weiß es nicht, ich habe sie erst seit Lamayuru“ – und zeigt auf seine nagelneue Digitaluhr. Den Schlüssel zu unserem Universum.

erschienen in:
GEO Saison