Im Hochhäuschen

Keine Reservierung, kein Schloss, kein Bett – und kein Mensch: Wo das Gebirge wirklich hoch und rau ist, haben Bergsteigervereine oder Hüttenwirte Biwakschachteln verankert. Ein besonders spartanisches Exemplar ist das Anton-Gaugg-Biwak im Karwendelgebirge. Die hochalpine Hundehütte steht auf 2.400 Meter Höhe in purem Schotter. Sie ist das perfekte Ziel für ein bergsattes 24-Stunden-Abenteuer.

Natürlich kommt Hauke mit. Denn wenn Einer für die etwas ruppigeren Outdor-Späße glüht, dann ist es Hauke: Sein Biwaksack ist selbstgenäht, der Messergriff handgeschnitzt. Als er keine Lust mehr auf seinen Job hatte, hat er auf einem Segelschiff nach Spitzbergen angeheuert und ist anschließend wochenlang alleine durch Norwegen gelatscht. So einer ist Hauke, und so einer erträgt es einfach nicht, die Berge zwischen Sonnenschirm und Karo-Deckchen hindurch von der Aussichtsterasse zu betrachten. Am liebsten würde er seinen Biwaksack gleich wild zwischen Latschenkiefern oder Felsblöcke werfen, doch das geht nicht im Karwendel. Das wild gezackte Gebirge südlich von München steht rigoros unter Naturschutz. Und ganz ehrlich: Wo wir hinwollen, ist es so ausgesetzt, dass mir eine zuverlässige Hartschale um den Schlafsack ganz recht ist. Ein Sommergewitter auf der Breitgrieskarscharte, 2.400 Meter hoch und etliche Kraxelstunden von der nächsten Hütte entfernt? Schönen Dank.

Es ist kein Gipfel, der mich dorthin lockt. Mich reizt die legendäre Biwakschachtel selbst, bietet sie doch die Chance, zur Unzeit mitten im wilden Irrsinn dieses Gebirgskammes zu sein: Wenn die Sonne unter- und wieder aufgeht. In aller Ruhe, und ohne dass jemand nebendran Selfie-Schnütchen zieht oder weißbierseliges Alpingeprahle rauslässt. In vielen Berghütten geht es lebhafter zu als in dem dicht bemenschten Wohnviertel, dem ich ja gerade naturwärts entfliehen möchte.

Zufallsfunde auf der Landkarte

Biwakschachteln sind ein Traum für Hardcore-Romantiker. Es sind kleine Schutzräume an exponierten Stellen des Hochgebirges. Sie sind unverschlossen und so spartanisch eingerichtet, dass es bei Wetterstürzen zum Überleben reicht. Das ist ihr eigentlicher Zweck. Doch bei sicheren Verhältnissen lockt Manchen eine Übernachtung in edelster Alleinlage hinauf. Das Spektrum reicht von regelrechten Häuschen mit Ofen, Matratzen und Decken bis zu besseren Hundehütten. Wieviele es davon in den Alpen gibt, ist schwer zu sagen, denn sie gehören nicht nur den Ablegern der Alpenvereine, sondern auch Privatleuten oder Sportclubs. Sie werden nicht offen beworben, weil niemand nennenswert Geld mit ihnen verdient und allzuviele Besucher auch garnicht erwünscht sind. Man findet sie eher zufällig auf Landkarten, als Halbsatz in Wanderbüchern, oder auch gezielt in einem kleinen Verzeichnis der Gebirgsschützer von „Mountain Wilderness“. Sie stehen ziemlich verloren im Gebirge: jenseits der Baumgrenze, fern von Quellen, auf langen, schwierigen Bergpfaden.
Das Anton-Gaugg-Biwak ist einer der Knoten in diesem unsichtbaren, weitmaschigen Netz einsamer Unterschlupfe. Der Namensgeber ist der Erbauer der drei oder vier Stunden entfernten Pleisenhütte, Finder eines prähistorischen Elches – und eben der Mann, der die skurrile Biwakschachtel mit einem Hubschrauber aufs Breitgrieskar setzen liess, als Notunterkunft auf dem „Anton-Gaugg-Weg“ durch die höchsten Karwendelgipfel.

„Im Jahr 1990 war das“, erinnert sich sein Sohn und Pleisenhütten-Nachfolger Siggi. „Mein Vater und die Bergwacht Lenggries haben ihre Unimogs in der gleichen Werkstatt richten lassen. Als die Bergwacht ihren verkaufen wollte, haben sie den Koffer abgebaut, der stand bei der Werkstatt herum. Ich könnt´mir vorstellen, dass er für das Trum nicht mal was bezahlen musste. Aber den Hubschrauber, den hat er selbst bezahlt, 25 Euro pro Minute.“ Ein- oder zweimal pro Jahr schaut Siegfried Gaugg jetzt selbst nach, ob die Fenster noch ganz sind, die Tür noch schließt, das Dach noch dicht ist. Ansonsten interessiert es nur Wenige, wie es da oben aussieht. Auf 60 bis 70 Biwakierer pro Saison schätzt Siggi die Besucherzahlen. „Im Winter kommt eh keiner. Da liegt Schnee drüber.“
Ob der eigentliche Gaugg-Weg jetzt, Mitte Juni, schon begehbar ist, weiß auch er nicht. Im Mai kam nochmal ein halber Meter Neuschnee, was ein paar kitzlige Stellen riskant machen könnte. Wir beschließen also, direkt über einen unmarkierten Jägersteig hochzugehen, dann über das Neunerkar bis in die Breitgrieskarscharte. Steil, aber vermutlich ohne Absturzstellen und allzu tiefen Schnee. Trotzdem muss Hauke die Lawinenschaufel einpacken – es könnte ja sein, dass das Biwak noch eingeschneit ist. Den großen, schweren Kocher zum Schnee schmelzen fürs Trinkwasser habe ich schließlich schon im Rucksack. Dazu noch Wechselklamotten, Schlafsack, Isomatte und reichlich Leckereien, außerdem Kaffee und eine Flasche Bier. Zehn Kilo sind es am Ende sicher, aber was soll´s: Ohne Überschreitung auf dem Gaugg-Höhenweg sind die 1.300 Höhenmeter zum Biwak die gesamte Tagesdosis. Und weil wir über denselben Weg auch zurückkommen, erleichtern wir uns die zehn anfänglichen Forststraßen-Kilometer vom Parkplatz in Scharnitz bis zum Einstieg ins Neunerkar ohnehin per Mountainbike. Ein Start am späten Vormittag reicht also lässig.

Es ist kurz nach Mittag, die Bikes liegen längst im Gebüsch. Auf etwa 1.900 Meter Höhe löst sich der romantische Jägersteig durch Lärchengrün und Latschenkratzig in Nichts auf. Auf letzten Erdresten strecken knöchelhohe Blümchen ein wenig Lila, Enzianblau und Gelb empor, dazwischen plätschert ein Rinnsal. Darüber ist das Neunerkar eine weglose Wüste aus gelblichgrauem Geröll. Zu steil, um einfach hochzustapfen, zu flach zum Abstürzen und mit viel Platz, einen eigenen Weg zu wählen. Die Biwakschachtel? Noch 500 Höhenmeter entfernt. Am Rand des Schuttkars reihen sich lange Schneefelder aneinander, das Geröll daneben variiert in der Körnung zwischen „Schlosspark“ und dem Kaliber von Benzinkanistern. Wo entlang? Wir hacken mit den Sohlenkanten eine Aufstiegslinie durch die Schneefelder. Der Altschnee ist griffig. Bei jedem festen Tritt spritzen eisige Körner gegen die nackten Beine.

Vanessa war nicht hier

„Das hätte ich mir sparen können!“ motzt Hauke, als wir eine gute Stunde später oben sind. Ich hätte mehr von ihm erwartet. Ein staunendes „Wow“ wie meines zum Beispiel, kombiniert mit einer 360-Grad-Panoramadrehung, um die einsame Schönheit dieses Fleckchens aufzusaugen? Doch Haukes Unmut gilt nur der umsonst geschleppten Lawinenschaufel: Das sandfarbene Biwak steht trocken im Schutt, der Schnee rundum ist weggeschmolzen. Die Schaufel scheppert zu Boden, der Rucksack daneben. Erstmal hinsetzen. Einen tiefen Schluck Wasser nehmen, dazu eine erste Dosis Stille und Abgeschiedenheit. Keine fremden Spuren rundum. Der vermeintliche Bergsteiger auf der Breitgrieskarspitze entpuppt sich als Gams und springt in die Steilwand. Nein, heute kommt niemand mehr.

Um das Toni-Gaugg-Biwak zu inspizieren, muss man sich bücken. Die vermeintliche Hütte ist nur etwa brusthoch, eine knappe Armspanne breit und so kurz wie ein Mann mit einem Rucksack am Fußende. Drinnen riecht es muffig, ein paar klitschnasse Socken gammeln auf feuchtem Riffelblech. Sie haben vermutlich im Biwak überwintert. Etwas erhöht, auf dem Schlafpodest, liegen drei von Mäusezähnen gezeichnete Isomatten, in einer Ecke hängt ein Handfeger, von einer Längsstange baumeln eine fast leere Stirnlampe und eine dünne Wolldecke. Für 27 Jahre in Schneesturm, harter UV-Strahlung und Gewitter ist das Alles ganz okay – und ziemlich sauber. Ob Biwakierer vielleicht bessere Menschen sind? Auf den Innenwänden stiller Orte im Tal steht beispielsweise „Vanessa ist eine Fotze“. Im Anton-Gaugg-Biwak zieren mit Bleistift gekritzelte Gedichte und Gedanken die Hartfaserplatten, dazu die schwungvoll hingemarkerte Behauptung „Liebe löst alle Blockaden“. Ich kenne Vanessa nicht. Aber das klingt viel sympathischer.

Als das Karwendeltal im Schatten versinkt, nimmt die Dunkelheit die sichtbaren Reste der Zivilisation mit sich. Die Forststraße verschwindet, das Jagdhaus, alle breiten Wege. Wir ziehen die Biere aus dem Altschnee und kauen sehr andächtig das heraufgetragene Abendessen. Wir schauen zu, wie die untergehende Sonne die Wolken von unten beleuchtet. Wir merken, wie die Schreie der Dohlen, das Piepen der Schneesperlinge in der Abenddämmerung verstummen. In diesem Natur-Vollrausch versteigt sich Hauke zu der Behauptung, der Inhalt seiner Discounter-Bierdose sei die bisher wohl beste Halbe des Jahres. Ich steige ein paar Meter am Grat auf, fürs Erinnerungsfoto. Als es auf dem Display erscheint, kommt es mir irgendwie bekannt vor. Ach ja, von den Urlaubsbildern weitgereister Freunde. Im Oman war das. Oder Jordanien? Es kann dort kaum entrückter gewesen sein als auf diesem dämmrigen Karwendelrücken.
Die folgende Nachtruhe auf Riffelblech und Isomatte zu preisen, wäre unehrlich. Auf zwei Seiten der Biwakschachtel geht es über 1000 Meter ins Tal, und das reicht für eine gewaltige Thermik. Der Wind rauscht unter wolkenlosem Sternenhimmel, er heult um die Stahlseile der Verankerung, reißt die Biwaktür auf und schmeißt sie krachend wieder zu. Dazu die Höhe, die Härte des Untergrunds – das ist Schlafen für Unerschrockene. Für Hauke zum Beispiel. Um Viertel nach Vier schleicht er sich ins morgendliche Graublau, um mit dem Sonnenaufgang alleine zu sein. Erst zwei Stunden später werfe ich zerknautscht das Kaffeepulver ins kochende Wasser. „Gut geschlafen?“ „Ja, super!“ behauptet er, „Am Stück durchgepennt.“

Um sieben Uhr früh stehen wir dann auf dem Gipfel der Großen Seekarlspitze, die Sonne modelliert brotmesserscharf gezackte Karwendelgrate aus der Dunkelheit. Schweigeminuten, dann wieder 300 Höhenmeter runter, die ums Biwak verstreute Ausrüstung in die Rucksäcke stopfen. Keiner da, den das Chaos stören könnte. Hier oben ist das Land der Freien, 80 Kilometer Luftlinie südlich der Münchener Fußgängerzone. Ein Abenteuerspielplatz für Fortgeschrittene. „Yeehaw!“ kaspert Hauke, setzt sich auf die Lawinenschaufel und rauscht im Rodeostil über das erste Schneefeld talwärts.

erschienen in:
WALDEN Magazin