United Colors of Peloton

Sie kommen aus Paraguay, aus Trinidad-Tobago oder der Mongolei. Sie sind jung. Sie wollen in die Weltspitze des Radsports. Ein Weg dorthin führt über die kleine Stadt Aigle am Genfer See. Im „World Cycling Centre“ drillt der Welt-Radsportverband die jungen Talente aus der Radsport-Diaspora monatelang zur Höchstleistung.

Natürlich hat es wehgetan. Wie soll es sich schon anfühlen, wenn eine Nadel tausendfach die Haut perforiert und schwarze Farbpartikel in den Körper schießt? Wo der Puls hinterm Handgelenk sichtbar klopft, tupfen andere junge Frauen behutsam Parfüm auf. Agua Marina Espinola hat sich für ein Tattoo entschieden. „Born to ride“ hat die Tätowiernadel in ihren schmalen Unterarm gestanzt, „geboren, um zu fahren“. Dazu ein Rennrad in Form einer liegenden Acht, dem Zeichen für die Unendlichkeit. Doch Agua Marina erinnert sich nicht an den Schmerz, nur an ihren Stolz: jetzt können Alle sehen, wofür sie glüht.

Espinola ist 21 Jahre jung und schon fünffache Straßen-Meisterin ihres Heimatlandes Paraguay, dazu mehrfache Mountainbike-Championesse. Ein zierliches Energiebündel, das abends Englisch gepaukt hat, jeden Guarani für das Flugticket gespart hat und 15.000 Kilometer in die Westschweiz gereist ist, um mit Hilfe der UCI ihr Potenzial auszureizen – und anschließend einen Profivertrag bei einem Continental Team abzuschließen, wenn alles gut läuft. Mitte März ist sie angekommen. Die nächsten paar Monate müssen zeigen, ob sie das Zeug für den internationalen Rennzirkus hat.

Bei nüchterner Betrachtung machen vier Komponenten eine Rennfahrerin oder einen Rennfahrer zu Topathleten. Neben dem genetischen Talent sind das der Willen, die Disziplin – und die Gelegenheit. Eine hohe Dosis der ersten drei Zutaten kann man bei den etwa zwei Dutzend Trainees des World Cycling Center voraussetzen. Die vierte Zutat – die Gelegenheit – verschafft ihnen die UCI.

Für Talente wie Espinola und derzeit etwa zwei Dutzend andere Bahn- und Straßenfahrer aus aller Welt hat der Welt-Radsportverband im Jahr 2002 ein Trainingsprogramm aufgelegt, sogenannte „High Level Courses“. Damit folgt sie ihrer satzungsgemäßen Aufgabe, den „Radsport in allen seinen Formen, auf der ganzen Welt, zu fördern“. Über 1.000 Sportlerinnen und Sportler haben Lehrgänge in Aigle durchlaufen. Unter den Trainees waren bekannte Namen wie der gebürtige Kenianer Chris Froome oder Toptalente wie der Eritäer Daniel Teklehaimanot.

Das „World Cycling Center“ (WCC) ist der Hauptsitz und die Hochschule des Welt-Radsportverbands, ein 2002 eröffnetes, silbern glänzendes Prunkstück von einem Gebäude im Gewerbegebiet von Aigle. Innen ist eine überdachte 200-Meter-Radbahn, Seminar-, Fitness- und Büroräume, außen ein BMX- und ein Crossparcours. Hier werden Trainer, Mechaniker und Teams aus der ganzen Welt ausgebildet. Wer als entdecktes Talent die Einladung nach Aigle kommt, könnte mit Handgepäck anreisen. Um das Ticket zum Genfer See kümmert sich die UCI nicht. Doch wer es bis Aigle schafft, wird mit einem neuen Mittelklasse-Carbonrad mit Leistungsmessung und kompletter Rad- sowie Freizeitkleidung ausgestattet. Auch für Wohnen, Verpflegung und monatlich 100 Franken Taschengeld kommt die UCI auf. Die Trainees leben dort gewissermaßen als uniformierte Eliteeinheit des Radsports.

In der Startliste steht: CMC

Doch Räder und Outfit sind nur die Hardware des Aspekts „Gelegenheit“, und die ist nicht wirklich entscheidend. Ein Rennrad, entsprechende Klamotten und etwas zu Essen hatte vermutlich Jeder, der es in das Programm schaffte. Was einen „High Level Course“ zum Sprungbrett in die Weltspitze des bezahlten oder olympischen Radsports machen kann, ist das Leben unter Profi-Bedingungen. Es sind die Trainer, die Mechaniker, die Physiotherpeuten – und für Straßenfahrer ist es die Chance, sich in Rennen mitteleuropäischen Stils zu bewähren und zu verbessern. 18 bis 20 Starts pro Nase stehen in den ersten drei Monaten an, dann entscheidet die UCI, wer länger bleiben darf.

Schon früh am Morgen laufen ein Dutzend Trainees in dunkelblauen Trainingsanzügen oder im WCC-Renndress durch die Katakomben des World Cycling Centre. Die glänzenden Betongänge unter der Radrennbahn verstärken das Klickern der Rennmaschinen auf ihrem Weg in die Werkstatt. Der Teammechaniker erfüllt letzte Justagewünsche, ölt Ketten und beruhigt damit en passant auch Nerven. Es ist für die Meisten der Tag des ersten Trainingsrennens in der Schweiz. Zum ersten Mal wird in der Startliste hinter ihren Namen als Team „CMC“ stehen, Centre Mondial de Cyclisme, man spricht hier französisch.

„Die Hölle des Chablais“ liegt in der Nachbarschaft und ist ein Amateurrennen auf nationalem Niveau. Ein Miststück von einem Kurs, zehn Kilometer pro Runde auf asphaltierten Feldwegen, zwei auf Schotter und Erde. Vom Asphalt in den Schotter geht es spitzwinklig mit über 100 Grad Abbiegewinkel. Jean-Jacques Henry, Ex-Profi und heute Trainer beim WCC, wird zum ersten Mal sehen, wie sich die Nachwuchstalente in der europäischen Praxis anstellen. „Ich weiß noch nicht, was hier passiert“ sagt er, „so ein dichtes, hektisches Feld sind nicht Alle gewohnt. Sie waren alle auf dem Wattbike zum Leistungstest, sie haben Potenzial. Aber heute sollen sie nur im Peloton klarkommen, Kraft sparen, sich in potenzielle Angriffspositionen bringen.“

Siegverwöhnte Außenseiter

Und so stehen sie in Dunkelblau-Weiß ein wenig fremd hinter der Startlinie zwischen ihren Schweizer Konkurrenten. Fremd – und unerkannt. Eigentlich könnten Viele als Landesmeister Flagge zeigen, oder gar Regenbogenstreifen: Der ruhige Junior mit dem chinesisch wirkenden Gesicht ist Tegshbayar Batsaikhan aus der Mongolei, er war 2016 Junioren-Weltmeister auf der Bahn. Eine Reihe dahinter ragt der dunkelhäutige Tyler Cole heraus, WM-Teilnehmer aus Trinidad-Tobago. Oder der äußerlich komplett schweizerisch wirkende Barnabas Peak aus Ungarn, der sich gleich beim ersten Start auf Platz Drei vorkämpfen wird. Die kleine, lustig mit ihren Kameradinnen plappernde Brenda Santoyo aus Mexiko, deren Weg zur Tokioter Olympiade sie schon zum zweiten Mal nach Aigle führt. Auch Agua Marina aus Paraguay könnte sich im Landesmeistertrikot in die spanische Konversation einklinken, doch sie konzentriert sich still auf ihr erstes Rennen im großen Peloton auf kleinsten Straßen. In Paraguay fahren sie zu Zehnt auf breiten Straßen. Hier stehen fünfzig Unbekannte am Start, um sich in Feldwegen zu attackieren, eine kritische Situation.

Am Ende werden gleich drei aus der Truppe mit Blumensträußen vom Podium zum Teambus rollen. Stolz, ja, aber nicht euphorisch. Zuhause sind sie Siege gewohnt. Auch das heitere Herumkumpeln nach dem Rennen ist eher sparsam dosiert. Nicht, dass die Trainees verspannte Gestalten wären, aber sie verstehen sich einfach nicht. Menschlich könnte es hinhauen, sprachlich jedoch nur in Einzelfällen. Die Liste ihrer Herkunftsländer umreißt die Vereinigten Staaten von Babylon: Weißrussland. Türkei. Mongolei. Costa Rica, Kolumbien, Argentinien, Paraguay. Serbien. Trinidad-Tobago. Ungarn. Wäre alles nach Plan gelaufen, hätten drei Eriträer die Sprachvielfalt weiter gesteigert, doch die Schweiz verweigerte den Afrikanern die Einreisevisa.

Lieder gegen die Einsamkeit

Das Französisch des aktuellen Gastlandes spricht Keiner, halbwegs konversationssicheres Englisch die Wenigsten. Wer es zwischen 17 und 22 Jahren in die nationale oder gar globale Leistungsspitze geschafft hat, findet nicht unbedingt Gelegenheit für eine Bildung jenseits des Pflichtprogramms. Und die UCI kümmert sich nur um den Sport. Frederic Magné, der Direktor des WCC, sagt: „Alle Versuche, wenigstens Sprachkurse anzubieten, sind an Trainingsplänen und dem extrem unterschiedlichen Ausgangsniveau gescheitert. Die Meisten kommen her, ohne englisch oder französisch zu sprechen. Nach ein bis zwei Monaten können sie dann etwas englisch. Sie müssen sich ja irgendwie unterhalten.“

Tegshbayar Batsaikhan spricht mongolisch. Er ist ein Riesentalent, Junioren-Weltmeister und Produzent enormer Werte auf dem Wattbike. Und auf der anderen Seite ein stiller 19jähriger, der schon zum zweiten Mal für voraussichtlich 11 Monate in Aigle lebt, das mit seiner Heimatstadt Ulan Bator so wenig gemein hat, dass seine Teamkollegen manchmal hören, wie er für sich selbst mongolische Lieder singt. Aber was soll einer tun, den der Himmel mit soviel Talent beschenkt hat, aber seine Heimat nicht mit einer Radbahn? Tegshi, wie sie ihn hier nennen, erzählt in sparsamem Englisch vom Straßentraining daheim, bei minus zwanzig, minus dreißig Grad. Von einer mongolischen Familie, die er hier getroffen hat und die ihn gelegentlich zum Essen einlädt.

Dann rollt er auf seinem Alltagsrad in einen Nachbarort, zum Wohnheim der Auserwählten. Es hat den Charme vergangener Jugendherbergs-Jahrzehnte. Im Aufenthaltsraum bemühen sich vier Trainees über Sprachgrenzen um Einigkeit über die Mensch-Ärgere-Dich-nicht-Regeln. Nüchterne Kunststoffoberflächen im Holzdekor, Neonröhren, die Küchenausstattung beschränkt sich auf einen Wasserkocher. Tegshi geht den Flur entlang bis in sein Zimmer, ganz hinten. Auf dem Bettkasten im ansonsten kahlen Raum stehen das Foto einer Dschingis-Khan-Statue und ein umgedrehter Becher mit Weltmeisterstreifen und buddhistischem Räucherwerk. Wer so leben muss, könnte trübsinnig werden. Doch wie sieht es bei denen aus, die so leben wollen?

Auf dem Trainingsplan für den nächsten Tag steht eine regenerative Runde von zwei Stunden. Trainer Jean-Jacques kurbelt vorneweg, seine Schützlinge surren in Zweierreihe hinterher. Eine Gelegenheit, nachzufragen. Die Mexikanerin Brenda Santoyo steckt ihre neongrüne Brille in den Helm und schaut verwundert: „Heimweh? Nein! Ich bereite mich doch auf die Olympischen Spiele vor, das ist perfekt für mich.“ Barnabás Peak aus Ungarn will drei Monate bleiben und ist fest überzeugt, danach ein besserer Rennfahrer zu sein. „Ja, das Leben ist gut in Aigle,“ sagt er. Agua Marina Espinola grummelt noch ein wenig, weil Rückenschmerzen sie im Testrennen blockiert hatten. Zwei Monate später wird sie eine Mail schicken: sie darf drei weitere Monate im WCC bleiben, weitere drei Monate im blauweißen Trikot der Hoffnungsvollen kämpfen, mit Wohnheimzimmer und Wattmessung die Weltmeisterschaften anpeilen. „Ich bin so stolz und glücklich“, schreibt sie. „Mein Traum kann wahr werden, mit noch etwas mehr Arbeit und Geduld. Ich kann Profi werden – ich bin sehr motiviert.“

erschienen in:
TOUR – Das Rennrad-Magazin