Jenseits von eben

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Segelflug am Limit: In Wellen, die der Wind über den Bergen formt, fliegt die Elite der Piloten höher, weiter und schneller als je zuvor. Mit Weltrekord-Flieger Klaus Ohlmann auf der Suche nach dem ultimativen Aufwind.

Zwei Kilometer über dem braunen Gras der Provence drückt Klaus Ohlmann die Sprechtaste seines Funkgeräts: „Charlie Golf, was macht der Wind bei Euch?“ fragt der Mann mit den Initialen „Kilo Oskar“ auf dem Seitenruder. Und Charlie Golf antwortet von links oben „zweihundertsechzig, fünfzehn, steigen vierkommadrei“, und Ohlmann sagt zu seinem Fluggast „Nimm nochmal zwei!“ und meint damit diese kleinen Wunderpillen gegen die Übelkeit. Ich nehme sie.

Eine winzige Bewegung am Steuerknüppel, und Ohlmanns Arbeitspferd, ein 30 Jahre alter Zweisitzer, dreht ab. Dorthin, woher der Wind weht. Knackend im Rumpf und mit einem anschwellenden Rauschen in der Kabine, als der Staudruck die Instrumentennadel Richtung „200 Stundenkilometer“ presst. Nicht wirklich viel für einen erfahrenen Piloten – die Anzeige endet jenseits von 280. Doch genug, um in der anschließenden Linkskurve mit mehrfacher Erdbeschleunigung meinen Unterkiefer Richtung Knie zu ziehen. Mir den Mund zu öffnen, genau richtig zum tiefen Atmen. Bauchatmung gilt als beruhigend.

Aufwärts im Fallwind

Was Streckenweltrekordler Ohlmann und die kleine Szene der extremen Segler in den Wellenströmungen der Athmosphäre veranstaltet, hat mit dem beschaulichen Kreiseln über münsterländischen Maisfeldern wenig gemein. Ruhiges Sonnenwetter, Morgennebel, Abendrot? Was für ein Scheißtag! Gerade gut genug für eine lauwarme Thermik, ein paar Platzrunden und gründliches Ausschlafen. Dafür sind sie nicht zum Saisonstart in die Provence gekommen.

Ein guter Flugtag beginnt hier nach einer schlechten Nacht. Einer Nacht, in der die filigranen Flieger am Boden festgezurrt sind und eiskalter Nordwind die Fensterläden schlagen lässt. Der Mistral ist der kalte große Bruder des warmen Fönsturms der Nordalpen. Er wälzt sich über den breiten Rücken des Mont Blanc und erhebt sich an manchen Tagen zu unsichtbaren Brandungswellen, die neun Kilometer hoch in die Athmosphäre ragen.

„Wellensegeln ist für den Sonntagsflieger eine Spur zu straff“ sagt Ohlmann und meint das nicht mal arrogant. „Da gibt es eine mentale Hürde, die man überwinden muss.“ Am Ende einer Meereswelle donnert die Brandung und saugt den Surfer in den Vollwaschgang. Unterhalb der Aufwindwelle droht der Rotor. Stark genug, um Verkehrsflugzeuge zu demolieren und Gleiter umherzuwerfen wie Herbstlaub. Sie auf den Boden zu klatschen oder in den Granit der Westalpen zu pressen. Doch der Weg in den Himmel des Wellenflugs führt meistens durch diese Drehtür. Einmal landete Ohlmann mit einem Loch in der Plexiglaskuppel seiner Maschine. Eine Orangensaftflasche hatte sie durchschossen, beschleunigt von einem turbulenten Abwind.

Zwischen Schach und Rennsport

An Mistraltagen verdampft die Gelassenheit, mit der zwei Dutzend Flieger hintereinander auf ihren Startschlepp warten, im ersten Licht des Tages. Anraunzer wechseln von Sender zu Empfänger, und durch die scheinbare Gleichheit der Wartenden schimmert ein Gerüst aus Hierarchie. Ein Anfänger tut gut daran, auf den ersten Schlepp des Tages zu verzichten. Flugfieber. Wenn die Welle steht, verhilft sie den Experten zu mindestens 1000 Kilometer Strecke, nachdem das Schleppseil ausgeklinkt ist. Start ist im Morgengrauen, Landung bei Sonnenuntergang. Dazwischen liegt der fliegerische Vollrausch, eine Mischung aus Formel eins und Schach.

Und Schach will gelernt sein. Beim Fliegen bedeutet es, aus dem Relief der Landschaft und immenser Wetterkenntnis eine Kette von „Wenn-Dann“-Entscheidungen zu knüpfen. Nach dem Muster „wenn ich am Berg XY auf 2.300 Meter steigen kann, fliege ich zum Berg YZ. Wenn da was geht, suche ich die Welle am Mont Blanc“. Funsport ist etwas anderes. „Wer mit nur 200 Flugstunden hierher kommt, ist ein Desperado“ sagt Wellenreiter Alexander Heim aus Bremen.

Beim morgendlichen Briefing flimmern die Vorhersagekarten dreier Wetterdienste über die Leinwand, gestaffelt in verschiedene Höhenschichten. Die Thermikvorhersage sieht aus wie der missglückte Versuch eines Internet-Users, eine Bilddatei auszudrucken. Kryptische Zeichen reihenweise. Als das Zeichenmuster für 2.000 Meter Höhe an der Wand erscheint, lachen viele. Die Zacken scheinen irgendein chiffrierter Insiderwitz zu sein. Wie jede Spezialistenszene hat auch diese ihren eigenen Code. Ich wohne im Chalet „seven bravo“, das heißt 7b, und „die Lentis hängen voll im Lee“ und schwarzes Gestein „produziert standardmäßig gute Bärte“. Luftschach auf hohem Niveau, gespielt von einer fast reinen Männertruppe mit überdurchschnittlichem Anteil an Ingenieuren.

Über die höchsten Gipfeln der Alpen, entlang ihrer Grate und über die bizarren Eisbrüche ihrer Gletscher fliegen nur die, aus denen tausende von Flugstunden menschliche Navigationscomputer und Wettersatelliten gemacht haben. Sie tragen bernsteinfarben getönte Brillen, die ihnen selbst im blauesten Himmel Hinweise auf Wolkenschleier geben sollen. Auf Thermik. Die ist zwar nur halb so ergiebig wie der Ritt auf der Welle, aber heute vielleicht die einzige Chance, der Erdenschwere zu entkommen.

Bastelstunde in der Thermik

Luftschach im engen Cockpit. Die Mittagssonne knallt in einen felsigen Südhang. Warme Luft zieht als dünne Schicht über die Schneefelder, durch die Latschen und unter die Schwingen des schweren Zweisitzers. Wer dichter am Fels fliegt, ist schneller oben, wer zu dicht anfliegt, ist schnell unten. Für immer. Klaus Ohlmann liegt lauernd im Schalensitz, die Hand locker um den Steuerknüppel, seine Brauen wandern noch weiter nach innen als ohnehin. Volle Konzentration. Hangflug mit 150 Stundenkilometern. Plötzliche „Blasen“ im Luftstrom oder Turbulenzen könnten … und Ohlmanns Hand zuckt am Steuerknüppel, wirft ihn umher, als gelte es, per Joystick eine Horde feindlicher UFOs abzuknallen. Zwei Sekunden vielleicht, dann ist die Lage wieder stabil.

Fast eine halbe Stunde dauert der Versuch, die dreiviertel Tonne Metall und Kunststoff ein paar hundert Meter emporzubringen. „Hochbasteln“ sagen die Flieger, und wer das nicht kann, riskiert eine Außenlandung auf steinigem Acker oder einem der umliegenden Flugplätze. Doch wenn es einer kann, dann ist es der hagere Mann am Knüppel. Seine16.000 Flugstunden sind mehr, als mancher Verkehrspilot zusammenbringt. Er bastelt sich durch die Hochprovence, immer weiter nach Norden. Südhang, kreiselnder Aufstieg, Abflug zur nächsten Thermik. Stundenlang, wechselnd zwischen entspanntem Streckenflug und konzentriertem „Kurbeln“ am Hang. Bis „Charlie Golf“ aus dem Lautsprecher meldet, dass er drin ist in der Welle über einem der weißen Kämme der Hochprovence.
Luft macht high

Und vorbei ist es mit dem basteln am Hang und den Schlägen der unruhigen Thermik. Ohlmann hat ebenfalls den Einstieg in die Welle gefunden, „seidenweiche Luft“ gespürt. Das Windgeräusch schläft ein. Das Höhenmessgerät, eben noch orgelnd wie eine Polizeisirene auf Valium, steigert sich gleichzeitig ins hysterische Gepiepse einer Spatzenhorde. Drei, vier, fünf Meter pro Sekunde hebt der Wind uns der Sonne entgegen. „Richtig gut“ sind 14 Meter pro Sekunde – 50 Stundenkilometer senkrecht. In gut vier Kilometern Höhe hält der Aufzug an. Ende der Welle. Gut so, denn angesichts der trüben Vorhersagen der Wetterdienste ist heute kein Flaschensauerstoff an Bord. Weiter oben wird es ohne ihn gefährlich. Die dünne Luft macht high und damit leichtsinnig, und sie hinterlässt Kopfschmerzen.

Unten links wächst eine schwarze Felsburg aus dem Glacier Blanc. Die Barre des Ecrins, einer der südlichsten Viertausender der Alpen und für Bergsteiger kein leichter Gipfel. Kommt näher, wächst höher. Vor dem Start sagte einer, dies sei die richtige Stelle für den ganz besonderen Kick: Den Sturzflug „in Ameisenkniehöhe“ über die eisigen Spalten des Glacier Blanc. Dieser Kick bleibt heute anderen vorbehalten, doch jener nicht: auf der Westseite des mächtigen Felsriegels drückt Ohlmann die Nase des Gleiters abwärts. Sekunden später taucht die Maschine mit rauschenden 230 Stundenkilometern die Firnflanke hinab. Und schießt mit einer Beschleunigung wieder aufwärts, die das feste Umklammern der Kamera ratsam macht.

Der Rest ist Gleiten. In einer halben Stunde geht die Sonne unter und die kleinen Wunderpillen sind auch fast alle. Im letzten Tageslicht hopst die Maschine auf der Graspiste zum Stillstand. Frage des Piloten: „Und?“ Keine Antwort. Stattdessen: Eine volle Blase und der Drang, damit nach sechs Stunden in der Luft möglichst schnell hinter dem Hangar zu verschwinden. Dann: Gänsehaut und der Drang, einen Brunftschrei in den provencalischen Abend zu entlassen.

erschienen in:
GQ Magazin