Wische, wische, wische – feeeeescht!

Foto: Tobias Gerber

Beim Curling wird nicht geflucht, nicht gelästert, und der Sieger spendiert dem Verlierer einen Drink. In Deutschland hat das Steineschieben auf Glatteis wenig Anhänger. Doch die Schweizer sind eine Curling-Großmacht – und sie lassen Gäste an ihrer Leidenschaft teilhaben. Unser Autor schwang in Arosa den Schrubber.

Ich konnte sie nie leiden, die Curler. In dem Schweizer Skiort, in dem wir manchmal mit den Eltern Urlaub machten, beanspruchten sie ein Drittel der Eisfläche für sich. Hundert Schlittschuhläufer kreiselten und drängelten auf der Restfläche, an Eishockey war nicht im Traum zu denken. Kein Platz! Und daneben beanspruchten sie das allerfeinste Eis, die Curler: nicht einmal ein Dutzend Herrschaften jenseits von sexy, luftig verteilt auf glänzender Fläche. Damen mit Pelzmänteln, Herren mit Seehundfell-Schuhen. Wie sie so hochnäsig dastanden, mit dem Rücken zum schlittelnden Touristenvolk, ganz auf ihr seltsames Spiel konzentriert und stinksauer, wenn man beim Fangen spielen doch über die Trennlinie flitzte und einen Kratzer in ihr heiliges Eis kerbte – ja, da konnte ich sie nicht leiden. Und mir erst Recht nicht vorstellen, selbst einmal so ein plumpes Granitbonbon anzuschieben.

Aufregender als Fussball

Doch so wird es kommen: ich stehe auf der Teilnehmerliste für einen “Schnupperkurs” am nächsten Abend. In einem Faltblatt des Schweizer Curlingverbandes stand, dass “Curling oft viel dramatischer und aufregender ist als Fußball”. Für nur zehn Schweizer Franken dürfen Anfänger in Arosa ausprobieren, ob sie dieser steilen These zustimmen. Auch kein unwichtiger Aspekt, denn zu diesem Tarif ist Curling eines der günstigsten Vergnügen hier. Und schon heute bestehen beste Chancen, sich als Zuschauer mit den Gepflogenheiten der Szene vertraut zu machen: beim “Arosa Bergbahnen Cup” messen sich ein paar Graubündener Teams im Steineschieben mit Schrubbereinsatz. Eine Stunde vor Turnierbeginn trägt eine garagengroße Maschine sorgfältig die letzten Eisschichten auf. Es wäre sicher keine gute Idee, dort Fangen zu spielen.

Immerhin gibt es Ausweichmöglichkeiten für Alle, deren Eis auch grober sein darf. Der Ort Arosa verteilt sich weiträumig um den “Obersee”, und weil das Ortszentrum etwa 1.800 Meter hoch in der klaren Graubündener Luft liegt, ist der winters meistens pickelhart erstarrt. Promi-Fußballspiele veranstalten die Touristiker darauf, oder auch ein Pferderennen. Überhaupt bedient der Ort alle Geschmäcker – wenn auch nicht immer gleichzeitig: Auf das Schweizer “Humorfestival” im Dezember folgt im Januar die “Arosa Gay Week” und kurz darauf ein Ski- und Snowboard-Wettbewerb namens “Chill and destroy” (entspanne und zerstöre). Kundenorientiert ist Arosa, bis ins Detail: Im Hotel-Meldeschein kann man den Namen des Haustieres eintragen. Im 19. Jahrhundert stand die Siedlung an der oberen Baumgrenze vor dem Aussterben. Heute kommen auf jeden der 2.500 Dauerbewohner rechnerisch drei Gästebetten.

Der zahlenmäßigen Übermacht der Gäste entkommen die Aroser unter anderem beim Curling. Wenn es um Curling geht, sind die Schweizer eine Weltmacht! Mit 8.000 Mitgliedern ist der Schweizer Curlingverband einer der größten der überhaupt. Deutlich mehr Curler gibt es nur in Kanada und Schottland, dem Ursprungsland des Sports. In Deutschland sind es bloß ein paar Hundert, und auf das hierzulande geläufige Eisstockschießen schauen die Curler herab wie ein Dressurreiter auf das Treiben im Ponyhof.

Curling ist im Selbstverständnis der Aktiven “Schach auf dem Eis”, ein Teamsport mit Angriffs- und Verteidigungsstrategien, mit einer Fachsprache und einem Ehrenkodex, der den “Spirit of Curling” festhält. Und den nehmen die Schweizer offenbar verstörend ernst: “Einen meisterhaft gespielten Stein zu verfolgen, bedeutet eine Augenweide;” konstatiert die Internetseite des Dachverbandes, “noch schöner ist jedoch die Beachtung und Wahrung der jahrhundertealten Überlieferungen, in welchen der wahre Geist des Curlings zu finden ist.” Einer der Grundsätze lautet: “Ein Curler wird bei einem misslungenen Stein des Gegners weder mit Worten noch mit Gesten Schadenfreude zeigen.” Curling, das die Schweizer vor über 100 Jahren von ihren englischen Gästen übernommen haben, ist ein Gentlemansport.

Mit Strickmütze und Fusselbart

Auf dem makellosen Aroser Eis haben sich die Graubündener Teams mittlerweile die Hände geschüttelt, sich “Gut Stein!” gewünscht und unter heftigem Geschrubbe etliche “Ends” gespielt. Jetzt ist Pause und Beat Maissen, genannt “Gieri”, gerufen “Tschieri” lässt sich entspannt die Sonne ins Gesicht brennen. Er ist Mitte Vierzig und Präsident des Curling Club Arosa. Seine fusseligen Koteletten wachsen unter einer handgestrickten Bommelmütze heraus, Lachfältchen überragen die Gläser seiner Sportsonnenbrille. Das Unbehagen am einst hermetischen Curling-Getue kennt er aus eigener Erfahrung: “Vor dreißig Jahren hätten wir Jungen da nicht mitspielen dürfen!” erinnert er sich, “Das war ein Zirkel aus Hoteliers und Honoratioren. Da hat man nicht gefragt, ob man mitspielen dürfe. Da wurde man gefragt – oder eben nicht. Das ist heute nicht mehr so.” Und in der Tat: Die Teilnehmer des “Arosa Bergbahnen Cup” sehen unprätenziös aus. Knitterfreie Kunstfaserhosen in Schwarz, dazu bunte Funktionsjacken mit den Anstecknadeln vergangener Turniere. Merke: “Ein Curler lässt sich nie mit einem Titel anreden. Alle Standesunterschiede sind auf dem Eis aufgehoben.”

“Tschieri”, der Chef seines Viererteams, muss weitermachen. “Wische, wische, wische – feeeescht!” kommandiert er und zeigt mit dem Finger auf den Platz, an dem der 20-Kilo-Stein tunlichst liegenbleiben sollte, um die eigenen Steine im Zentrum des Zielbereiches vor gegnerischen Attacken zu schützen. Ein älterer Herr aus Kloten hat dagegen Pech gehabt. Sein Stein wurde aus dem “Haus” geschossen. Der Gentleman zuckt kaum sichtbar zusammen. Dann lobt er die Aktion des Gegners. “Schöner Stein!” sagt er, dreht sich um, und murmelt lächelnd: “Jetzt darf man nicht schimpfen. Das muss man einfach besser machen.” “Ein Curler respektiert und anerkennt eine gute Leistung des Gegners” gebietet hierzu der Curling-Knigge.

Eine Curlingmaschine für die Forschung

Es ist ein Spiel ohne Kante. Menschen, Steine und Worte gleiten umeinander, ohne dass es allzu laut scheppert. Entspannte Konzentration, heiterer Ehrgeiz. Man kennt sich, und manches Kommando ertönt auf romanisch, in der Sprache der Einheimischen. Hier draußen, beim Freiluft-Curling, kämpfen Hobbyspieler um einen Wanderpokal und ein gelungenes Wochenende. “Aber in der Halle, das sind die Supergenauen”, hatte Maissen erklärt, “da geht es um Millimeter.”

Die Option zur Millimeterarbeit verdankt das Curling der Arbeit mit dem Schrubber. Im Unterschied zum Eisstock, der nach dem Abwurf einfach austrudelt, können gute Curler den Stein so einparken, dass eine Wagenburg um den Zielkreis entsteht oder die Gleitbahn eines zu lasch geschobenen Steins sich bis ins Ziel verlängert. Um genau herauszufinden, was die Schrubberei bringt, haben Schweizer Forscher eine Curlingmaschine gebaut und erfahrene Sportler mit verschiedenen Besentypen vor dem gleitenden Stein schrubben lassen. Sie fanden heraus, dass dieses punktuelle Antauen des Eises den Weg des Steins tatsächlich lenken und bis zu zehn Prozent verlängern kann. Außerdem, so eine weitere Erkenntnis, sollten Curler in der Schweiz einen Punkt etwa 2,4 Zentimeter links des eigentlichen Zieles anvisieren: Während der 40 Meter weiten Gleitphase dreht sich die Erde unter dem Stein um diesen Betrag weiter.

Viele Meter Erddrehung sind seit Turnierbeginn verstrichen. Es scheint, als drehe sich die Erde um den Eisplatz, und als habe die Erdrotation die Feriengäste ein Stück aus dem Zentrum des Aroser Talkessels herauszentrifugiert, so ruhig ist es rundum. Besonders hoher Fliehkräfte bedarf es dazu nicht, denn den Talkessel um Arosa muss man sich eher als einen Tal-Wok als einen Kessel vorstellen, mit gleichmäßig sanft ansteigenden Rändern. Ziemlich mühelos lupfen Gondeln und Lifte ihre Kunden in ein flächig gewelltes Weiß oberhalb der Waldgrenze. Dort oben flanieren die Gäste auf akkurat gebahnten Wegen zwischen Sonnenterassen, oder sie ziselieren mit Skikanten feine Spuren in den Schneebelag der Talschüssel – auf jeden Fall machen sie dabei keinen Lärm, der das leise Rumpeln der schweren Granitbonbons auf Eis überlagern könnte. “Klock!” macht es gegen 15 Uhr ein letztes Mal. Dann hat “Arosa 3” das Turnier verloren. Dabei hatte “Tschieri” nach Leibeskräften gewischt und so den Stein der Gegner noch um einen Hauch vom Zielkreis entfernt. Vergeblich. Ob er die Erddrehung vernachlässigt hat?

„Die haben einfach keine Geduld, die Bänker!“

Unser abendlicher Schnupperkurs ist weit von solchen Feinheiten entfernt. Oskar Leimgruber, ein Aroser Curling-Routinier, zieht das Eis mit einem breiten Schaffell-Besen noch einmal blank und macht gleich klar, dass Curling kein Instant-Spaß ist. “Gestern hatten w ir eine Gruppe Bänker.” Pause. “Die kamen zu spät und gingen zu früh.” Pause. “So bringt das nichts. Die haben einfach keine Geduld, die Bänker.” Leimgruber hat Geduld, und er hat für Jeden der fünf Novizen (die Anderen sprechen sehr einheimisch) einen kurzborstigen Besen und eine handgroße, harte Kunststoffplatte dabei. Während echte Curler Spezialschuhe mit einer glatten und einer griffigen Sohle tragen, behelfen wir uns mit einem solchen “Slider”.

Was dann folgt, wirkt wie das Training einer Putzkolonne für ihren Besuch bei der Queen: Mit der glatten Platte unterm vorderen Fuß gehen wir in einen weiten Ausfallschritt, Marke Kniefall. Weil man dabei mit dem “Slider” umfallen würde, stützen wir uns auf dem Besen ab. Dabei greift die linke Hand den Stiel ganz weit unten, während das obere Stielende unter der Achsel hindurch auf dem Schulterblatt ruht. Klingt kompliziert? Das wird es erst, wenn man sich so von einem Startblock abdrückt, um fünf Meter übers Eis zu gleiten. Das schwere graue Granitbonbon mit dem Bügeleisengriff in der Rechten ist in dieser Lage der einzige verlässliche Freund. Wir lassen ihn nicht los, in der ersten halben Stunde. Hintern hoch, Stein nach hinten, mit dem Bein abdrücken und gleichzeitig den Stein nach vorne schwingen. Eine einzige, fließende Bewegung soll es werden. Dann Rutschen, gaaaaaanz lang. Zehn Mal? Zwanzig Mal? Die Turnier-Curler hatten ausgesehen, als würden Statuen an einem Seil übers Eis gezogen. Bei uns sieht es anders aus. Statuen rudern nicht mit den Armen, bevor sie umfallen.

Gesplitterte Zehen in den Schuhen

“So, und jetzt spielen wir den Stein. Der ganze Schub kommt aus dem Bein, der Arm führt nur!” behauptet “Oski” Leimgruber optimistisch. Zurück zum Startblock, Besen unter die Achsel, Rutschplatte unter den Vorderfuß. Hintern hoch, Stein zurück, Bein strecken, Stein vor, Abdruck. Irgendwo zwischen der zwanzigsten und dreißigsten Wiederholung muss mein Körper es kapiert haben. Eine ganz logische Bewegung, eigentlich. Und ein erhabenes Gefühl, im Tempo des Steins dahinzugleiten, um ihm vor der Abspiellinie noch ein paar letzte Feinheiten mit auf den Weg zu geben. Einen winzigen Extra-Schubser vielleicht, damit es wirklich bis ans andere Platzende reicht. Oder einen leichten Rechtsdreh am Griff, der ihn in einer zarten Rechtskurve zielwärts gleiten lässt. Drei- bis viermal “curlt” der Stein idealerweise um die eigene Achse, das stabilisiert seinen Weg. Nicht, dass er damit sein Ziel oft erreichen würde – meistens ist die Belohnung nur das majestätische Rumpeln von schottischem Granit auf Schweizer Glatteis, manchmal das dumpfe Klock! des Zusammenpralls mit einem anderen Brocken. Aber der Eifer ist erwacht. Etwas mehr Drehung vielleicht beim nächsten Mal? Und den Schub wirklich nur aus dem Bein holen! Konzentriert rutschen wir auf Knien übers Eis. Unermüdlich. Im kalten Kegel des Flutlichts verdichten sich Nebelschwaden, die Zehen liegen vermutlich gesplittert in den tiefgefrorenen Schuhen. Längst ist die dünne Eisprinzessin von nebenan heimgegangen. Und endlich sind auch diese Eishockey-Jungs weg, die immer ihren Puck rübergeschossen haben. Diese Flegel!

erschienen in:
GEO Saison