Der Preis des Fortschritts

Foto: Jörg Spaniol

Rennräder, so scheint es, sind wahnsinnig teuer geworden. Während ein renntaugliches Markenrad vor zehn Jahren problemlos für 3.000 Euro herging, liegt die gehobene Mittelklasse mittlerweile preislich eher bei 5.000 Euro. Wie konnte das passieren – und wo führt das hin?

Die ganze Tragik eines Jahrzehnts Preisentwicklung lässt sich an einem Rennradmodell aufzeigen, das schon 2010 im Angebot war: Ein Specialized „Tarmac Expert SL Comp“ hatte damals einen Carbonrahmen, einfache Alulaufräder und eine Ultegra-Schaltgruppe. Es wog 7,7 Kilo und kostete 3.000 Euro. Das aktuelle „Tarmac Expert“ mit Ultegra-Ausstattung und ähnlichem Gewicht kostet 6.000 Euro. Eine Frechheit! Eine Frechheit? Nein, stimmt so nicht. Denn der eigentliche Nachfolger des 2010er Tarmac wurde bis 2018 als „Tarmac Comp“ angeboten. Es war am Ende seines Modellzyklus´ dem acht Jahre alten „Expert“ technisch immer noch sehr ähnlich. Und es kostete immer noch 3.000 Euro. Es ist der technische Fortschritt, der zu einem guten Teil für das exorbitante Preisniveau aktueller Räder verantwortlich ist.

Peter Denk, der schon für Scott, Cannondale und Specialized Räder entwickelt hat, sieht die Scheibenbremse als Auslöser der Preiswelle: „Sie ist der eigentliche Preistreiber. Sie ist ohnehin schwerer als die Felgenbremse, und sie erfordert neue Rahmen und Gabeln. Das macht ein Disc-Rad bis zu 800 Gramm schwerer – aber niemand will ein Acht- oder Neun-Kilo-Rennrad! Also müssen wir sehr viel Geld ausgeben, um das Mehrgewicht zu kompensieren.“ Und weil sich die Radtechnik ab der Mittelklasse auf hohem Niveau bewegt, wird es sehr teuer, dieses Mehrgewicht durch höherwertige Details andernorts einzusparen. Noch leichtere Reifen, Lenker, Sättel, Felgen sind ab der Mittelklasse oft hochpreisige Delikatessen. Zudem ist eine hydraulische Scheibenbremse ohnehin teurer als eine Felgenbremse.

Der zweite wesentliche Preistreiber ist die Aerodynamik. Sie ist – auch TOUR weist immer wieder darauf hin – für Sieg oder Niederlage meist entscheidender als das Gewicht der Maschine. Wer das Letzte aus seinem Design herauskitzeln will, spendiert dem Rad Carbon-Hochprofilfelgen. Er verlegt alle Züge unsichtbar, entwickelt eigene Bremsen, Sattelstützen, Lenker und Vorbauten. Im Zweifelsfall ist hier Carbon gefragt. Der Aufpreis für die cleane Optik und ein paar gesparte Watt ist immens.

Watt gegen Euro

Kein Hersteller lässt sich in die Bücher gucken, doch ein Insider nennt Zahlen: „Der aufgeräumte Look mit durch den Lenker verlaufenden Zügen und so weiter macht das Rad bis zu 1.000 Euro teurer. Diese ganzen integrierten Lösungen aus Carbon brauchen nämlich eigene Produktions-Formen – es gibt ja keine Standards dafür.“ Entwickler Peter Denk geht noch weiter ins Detail: „Eine integrierte Lenker-Vorbaueinheit müssen wir in 12 bis 20 Variationen entwickeln und produzieren, je nach Breiten und Längen. Eine normale Form kostet etwa 10.000 Euro. Wenn wir dieses Cockpit mit inneren Leitungsführungen, irgendwelchen Klappen und Inserts bauen, wird jede Form noch viel teurer – und das Produkt wird fehleranfälliger. Wir müssen Hunderte Prototypen testen, um jeden noch so kleinen Mikroriss auszuschließen. Bis zum ersten Lenker an einem Rad hat die Einheit leicht über 200.000 Euro für Entwicklung und Form gekostet. Ein hochwertiger Carbonlenker von einem Zulieferer kostet einen Radhersteller im Einkauf nicht mehr als 20 Euro. Natürlich merkt man das im Rad-Verkaufspreis!“

Dabei verzahnt sich der Aero-Trend wackelfrei mit den Preistreibern Hydraulikbremse und Elektroschaltung. Innenverlegte Leitungen haben so viele und enge Biegungen, dass herkömmliche Bowdenzüge nicht mehr perfekt funktionieren. Elektrokabel oder gar Funkstrecken sind da viel unempfindlicher. Der Aufpreis für Elektroschaltungen liegt, je nach Hersteller und Preisklasse, bei 600 bis 1.000 Euro pro Rad für den Käufer. Ob das den Mehraufwand in der Fertigung abbildet, sei dahingestellt. Aber das ist beim Preisunterschied zwischen der 100-PS-Version und der 150-PS-Version eines Autos auch nicht anders.

Die Mittelklasse zerbricht

Dabei zerreißt es vor Allem die einst verkaufsstarke Mittelklasse um 3.000 Euro. In der klassischen „Ultegra-Klasse“ hat der Kunde zunehmend die Wahl zwischen einem richtig teuren und einem weiterhin guten, aber technisch veralteten Rennrad, das in manchen Rennsituationen tatsächlich unterlegen sein kann. In der Einsteigerklasse verbieten sich solche Upgrades dagegen von selbst. Michael Wild vom Shimano-Importeur Lange und Co hat den Zulieferermarkt genau im Blick. „Manche Einzelteile treiben die Preise immer weiter in Richtung Topklasse, weil sie in der Herstellung so teuer sind und bleiben werden. Aero-Carbonlaufräder oder eine integrierte Carbon-Lenkereinheit kosten im Einkauf mehr als der ganze Rest eines Einsteigerrades, ein Powermeter kostet mehr als alle übrigen Komponenten zusammen. Solche Teile markieren aber die Topklasse. Und die hebt dadurch preislich ab.“ Doch ohne Integration und Aero sieht das Rad eben sprichwörtlich alt aus. Auch fürs Markenimage ist so etwas ein Problem.

Mehr denn je treibt auch die Vielfalt der Radtypen die Kosten nach oben. Im Metall-Zeitalter wurde für eine andere Rahmengröße rasch die Rahmenlehre umgebaut. Entwicklungskosten? Formkosten? Testkosten? Beim klassischen Rundrohr-Rahmen eher zu vernachlässigen. Solange sich die Auswahl im Rennradbereich auf die drei Rahmen-Grundformen Cross, Straße und Zeitfahren beschränkte, konnten auch viele Kleine bis hin zum Famlienbetrieb mitspielen.

Die „Backform“ als Preistreiber

Ein zumindest Mittelgroßer wie der Versender Rose hat im Carbon-Rennradbereich heute sieben verschiedene Rahmenplattformen im Angebot, in jeweils fünf bis sieben Größen. Das macht etwa 40 „Backformen“, deren Herstellung inklusive Entwicklungs- und Testkosten einen satt siebenstelligen Eurobetrag verschlingen dürfte – und selbst das ist schon das eingedampfte Programm. Thorsten Heckrath-Rose, Chef des Rose-Versands, hat die Entwicklung der Radtypen durchgerechnet: „Im Highendbereich kostet eine Form, und zwar nur die Hardware, manchmal über 30.000 Euro, denn sie muss präziser sein als für einen Durchschnittsrahmen, und sie ist im Inneren komplexer. Auch wegen solcher Überlegungen haben wir vor zwei Jahren angefangen, unser Programm zu straffen.“ Den Kalkulationen fielen neben den Wettkampf-Crossrädern auch die Triathlon- und Zeitfahrmodelle zum Opfer. „Angesichts der mittlerweile hohen Systemintegration und der ganzen Spezialteile hätten wir für ein wettbewerbsfähiges Rad so hohe Entwicklungs- und Herstellungskosten, dass wir sie vermutlich nicht wieder reinholen würden.“

Erschwerend und preistreibend kommt dazu, dass sich Rennräder auch stark über Rennerfolge verkaufen. Stevens-Manager Volker Dohrmann konzentriert das Sponsoring auf die weniger kostspielige Cross-Szene, denn das Sponsoring eines World-Tour-Teams können nur global agierende Marken oder Hochpreis-Label wie Pinarello oder Colnago stemmen: „Ein Mittelklasse-Team der World Tour kostet den Radsponsor einen siebenstelligen Betrag, plus 150 bis 200 Toprahmen“ erklärt er. „Für Spitzenteams erreicht der Aufwand an die zehn Millionen jährlich. Die Preise dafür haben sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt bis verdreifacht. Für den deutschen Markt lohnt sich das eher nicht, aber in anderen Ländern lassen es sich Kunden gerne 1.000 Euro mehr kosten, das gleiche Rad wie ein bestimmter Profi zu fahren.“ Eine These, der auch Heckrath-Rose zustimmt: „In Südeuropa oder Belgien ist das eine wichtige Sache,“ sagt er, „in Deutschland bringt mir das Nix. Da weiß doch kaum jemand, wer gerade Straßen-Weltmeister ist.“ Aber er zahlt für die entsprechende Marke den Image-Aufpreis.

Und so schließt sich der Kreis, zurück zum exemplarisch aufgeführten Specialized-Modell, das heute doppelt soviel kostet wie vor zehn Jahren. In seinen satten 6.000 Euro finden sich (neben der allgemeinen Teuerungsrate und den vervielfachten Löhnen in China) fast alle Preistreiber: Es ist so leicht wie sein Urahn, hat dabei aber Scheibenbremsen, Elektroschaltung, leichte Aero-Laufräder sowie ein gewisses Maß an Aero-Optimierung und Systemintegration. Wer hinschaut, findet das Markenlogo auch bei der Tour de France wieder. Das Rad ist kein Beweismittel für die große Verschwörung der Abzocker – es ist ein komplett anderes Rad als sein 2010er Vorgänger. Entsprechend unaufgeregt fasst Volker Dohrmann vom Mitbewerber Stevens die Entwicklung zusammen: „Für die Branche ist es natürlich gut, dass der Verbraucher offenbar höhere Preise akzeptiert. Für die gibt es ja auch Gründe, das ist nicht unbedingt kalkulatorische Willkür. Aber ob er das, was die Räder so teuer macht, wirklich braucht … das muss jeder Kunde selbst entscheiden.“

Kommentar

Wachsen oder Weichen?

Warum sind Rennräder so teuer geworden? Einfache Antwort: Weil wir als Käufer alle paar Jahre ein neues Rennrad kaufen wollen, das noch geiler ist als das vorige. Und diese Verbesserungen sind angesichts des ohnehin hohen technischen Niveaus ab der Mittelklasse auch für die Hersteller richtig teuer. Aktuell eröffnen gesteigerte Typenvielfalt von Aero bis Gravel, dazu Scheibenbremse, Elektroschaltung und Aerodynamik endlose Möglichkeiten, sich beim Kauf zu verausgaben. Manches davon kann im Rennen tatsächlich die Siegchancen steigern und macht den Leistungs-Radsport damit teurer. Das ist der Preis des technischen Fortschritts.
Ein Nachteil der Entwicklung zu noch ausgefeilterer Technik ist der Verlust an Markenvielfalt. Nur die wirklich Großen können so viele Räder verkaufen, dass der zusätzliche Aufwand für Systemintegration, Aerodynamik und Leichtbau pro Fahrrad bezahlbar bleibt. Kleinere Marken werden technisch immer weiter abgehängt – wenn es nur um die nüchternen, messbaren Eigenschaften eines Rades geht. Doch für Findige bleibt eine Nische: sie klinken sich ein Stück weit aus dem Rüstungswettlauf aus und bauen Räder für Kenner. Räder in Wunschfarben oder mit Maßgeometrien, mit weiter Wahlmöglichkeit bei der Ausstattung, mit zeitlosem Stil oder wartungsfreundlicher Technik. In der aktuellen TOUR-Online-Umfrage gab fast die Hälfte der Befragten die Optik als das wichtigste Kaufkriterium für ein neues Rennrad an. Gewicht und Aerodynamik teilten sich die verbleibenden 50 Prozent. Nun ist „Optik“ sicher kein Kriterium, das Leichtbau, Aerodynamik oder Image ausschließen würde. Doch die Umfrage macht Mut: das Rennrad bleibt ein emotionales Produkt. Und weil wir nicht alle gleich ticken, ist das gut für die Vielfalt.

erschienen in:
TOUR – Das Rennradmagazin