Humus im Herzen

Foto: Bergwaldprojekt e.V.

Urlaub nehmen, um hart zu arbeiten – für die Freiwilligen beim „Bergwaldprojekt“ ist das ein guter Deal. Sie ziehen im Frühtau zu Berge, pflanzen Bäume, bauen Hochsitze und essen aus dem Blechnapf. Eine durchaus beglückende Plackerei.

Nachmittags um fünf gehört die Wiese hinter dem einsamen Forsthaus den Frauen. Dann ist Damen-Waschtag in einem halboffenen Zelt unter freiem Himmel. Die zierliche Katharina stemmt eine volle Gießkanne schulterhoch, während ihre Freundin Theresa schon schaudernd auf den kalten Guss wartet, um sich Schweiß und Erde, Spinnweben und Tannennadeln vom Leib zu schrubben. Dabei ist diese Freiluft-Dusche bereits ein relativer Luxus: die Alternative wäre ein Bad in der schnappatmungskalten Ostrach. Schon kurz nach dem Aufstehen, der Mond stand noch über dem einsamen Holzhaus im Hintersteiner Tal, hatten die beiden deshalb fünf volle Gießkannen da platziert, wo die Sonne tagsüber hinscheinen sollte. Ein paar Grad hat das sicher gebracht – und der Vollkontakt mit der Natur ist ohnehin nichts für Warmduscher.

Mit Anfang zwanzig gehören die beiden Studentinnen zu den Jüngsten, das obere Alterslimit der Truppe liegt um die sechzig. Mit den dürren Worten “Pflanzung, Steigbau, Waldpflege” und der Unterkunft in einem einfachen Holzhaus hat das Bergwaldprojekt sechs Männer und sieben Frauen in den schwächelnden Wald des Oberallgäus gelockt. Es gilt, den von Sturm, Klimawandel und Käferfraß angerichteten Verhau wieder in einen gesunden Bergwald zu verwandeln: die Stürme Vivian und Wiebke hatten Angang der 90er Jahre viele Bäume gefällt, darauffolgende heiße Sommer nutzten dem Borkenkäfer, einem extremen Baumschädling. Jetzt krankt der Schutzwald, Lawinen und Hangrutsche bedrohen die Straßen und Siedlungen im Tal.

Die Freiwilligen kommen aus Rostock oder vom Bodensee, sie sind Computerspezialist oder Ergotherapeutin, Wasserwerker oder Lehrerin. Sechs Tage Knochenarbeit in schwierigem Gelände liegen vor ihnen. Sechs lange Tage, in denen die Nacht schon morgens um sechs vorbei ist und sie Dinge tun, die in ihrem sonstigen Alltag kaum vorkommen. “In Hamburg heißt Natur für mich: joggen gehen” sagt Theresa, die angehende Kirchenmusikerin. “Das hier ist etwas Anderes. Hier bin ich mitten drin!” Und dieses mittendrin erfordert vollen Körpereinsatz.

Die Wiedehophaue fährt in den Humus

Henning Rothe ist 40 Jahre alt, sommerhimmelblauäugig und könnte im Heimatfilm einen Bergführer spielen. Doch Rothe ist einer der hauptberuflichen Förster des Bergwaldprojekts und damit der Guide für dieses besonders erdnahe Naturerlebnis. Mitten in einem ruppigen Steilhang steht er zwischen alten Baumstümpfen, neben sich eine Holzsteige mit struppigen Mini-Weißtannen und bierflaschenhohen Buchen. Schwere gelbe Grasbüschel hängen taunass talwärts, Atemwolken dampfen aus seinen Freiwilligen. Dass in ihrem Rücken die Sonne ein paar spektakulär zackige Bergkämme aus dem Frühdunst modelliert, ist nebensächlich, denn Rothe schwingt eine beängstigende Hacke, die er immer wieder dumpf in den Waldboden versenkt. “Das ist eine Wiedehopf-Haue,” erklärt er die brusthohe Kreuzung aus Axt und Schippe und mahnt zum vorsichtigen Umgang: “Das Ding darf Euch nie abrutschen – eine Wiedehopfhaue ist nämlich etwas grober als ein Splitter im Finger. Die eitert so schnell nicht raus.”

Dann schlägt er neben einem Baumstumpf ein Loch durch zähen Grasfilz und dunklen Humus. Immer tiefer, durch tote Wurzeln, bis hinunter zum graubeigen Erdreich. “Die Wurzeln brauchen Verbindung zum Mineralboden, den ihr hier seht, sonst ist der Baum in ein paar Wochen tot.” erklärt er, “Dann können wir es gleich lassen. Und alle Wurzeln müssen von Erde bedeckt sein. Schön mit den Händen festdrücken, dass er sich nicht Herauszupfen lässt – ich schau´mir das dann an.” Seine Zuhörer greifen sich kistenweise Setzlinge und je eine Haue und schicken sich paarweise an, die Lücken im Schutzwald zu stopfen. Flächiges Keuchen am stillen Berg. Immer wieder schrilles Klirren von Stahl auf Kalkstein. Behandschuhte Handrücken wischen Schweiß von der Stirn. Laub- und Nadelbäume finden ihren endgültigen Platz in der Welt, und Theresa findet beim Buddeln einen Alpensalamander. Minutenlang lässt sie ihn von einer Hand auf die andere krabbeln. Sie schaut versonnen auf das kleine, schwarzglänzende Tier, bevor sie es abseits ins Gras setzt.

Als die Hacken einmal mehr zum Feierabend auf die Ladefläche des Transporters scheppern, ist Rothe zufrieden: Seine Laientruppe ist mit handfestem Engagement bei der Sache. Der vorher lückig bewaldete Berghang ist nach drei Tagen um 400 Bäume reicher und damit erfolgreich verjüngt. “Ich hatte auch schon Teilnehmer, die mit Ästchen Muster um die Bäume gelegt haben,” grinst Rothe, “aber das ist dann doch nicht unser Stil.” Und Susanne, eine aufgekratzte Arzthelferin aus dem Schwäbischen, hat beim Schwingen der Haue einen ganz unesoterischen Blick in die Zukunft gewonnen: “Bäume zu pflanzen ist etwas Besonderes. Wenn alles klappt, steht so ein Baum in zwei- oder dreihundert Jahren noch! Der überlebt uns und sogar unsere Enkel! Das ist ein ganz anderer Zeithorizont als im Job.”

Ein Tattoo aus Obst und Gemüse

Doch nach über acht Stunden am steilen Berghang ist auch Susannes Zeithorizont deutlich verkürzt: auf eine sonnengewärmte Gießkanne zum Duschen, ein kühles Getränk aus dem Brunnen vor dem Forsthaus und ein möglichst umfangreiches Abendessen am langen Gemeinschaftstisch. Andreas Menz, der Oldenburger Koch, hat ein paar Ohrringe und zeigt mit großen Tattoos, was er mag: die rechte Schulter ist mit Baumwipfeln verziert, die linke mit einem Arrangement aus Früchten. Beim Bergwaldprojekt wird vegetarisch gespeist, vorzugsweise mit regional und saisonal passenden Zutaten. Aus Prinzip, weil das besser für den Planeten ist. Andreas´ vegetarisches Vier-Gänge-Menü ist denn auch eine gelungene Propagandaveranstaltung – die Tischgespräche kreisen lobend über leeren Schüsseln, die kurz zuvor noch voller Beerenquark, Kartoffelpürree oder Pilzgemüse waren. Für Andreas ist das die Chance, etwas loszuwerden: “Ich hoffe, es hat Euch allen gut geschmeckt. Und da war jetzt kein bisschen Fleisch drin. Ich habe also eine Bitte an diejenigen von Euch, die keine Vegetarier sind: Ihr würdet mir echt ´ne Freude machen, wenn Ihr einen Tag pro Woche auf Fleisch verzichtet. Jo, das war´s dann auch schon, was ich sagen wollte.” Es folgen gemeinsamer Spüldienst, ein letztes Bier am Lagerfeuer und der frühe Rückzug in Stockbetten und Schlafsäcke. Es weht ein Hauch von Klassenfahrt, doch die Kissenschlacht fällt definitiv aus – schon, weil die Arme viel zu müde sind.

Was die Teilnehmer in der zweiten Wochenhälfte erwartet, könnten strenge Tierschützer dagegen als “Beihilfe zum Mord” werten. In der Rolle des Mörders: Erhard Keck, ein freundlich-verschmitzter Allgäuer um die Sechzig. Keck ist der Vertreter der örtlichen Jagdgenossenschaft. In deren schwer zugänglichem Revier über Bad Hindelang werden die Bergwaldler einen Hochsitz bauen, mitsamt einem möglichst bequemen Steig zum Abtransport der Beute. Die Hauptamtlichen wissen, dass manche Bergwald-Sympathisanten die Jagd generell ablehnen, doch in diesem Projekt spielt sie eine wichtige Rolle: für Gams und Reh sind junge Bäume eine Leckerei. Fast alle vom Bergwaldprojekt gepflanzten Bäume wachsen an. Doch erst, wenn sie nach etwa 15 Jahren zu hoch fürs knabbernde Wild sind, sind sie aus dem Gröbsten raus – falls kein Hirsch auf die Idee kommt, sich an ihnen den Bast vom Geweih zu fegen.

“Das Revier hier war früher verpachtet”, sagt Jagdgenosse Keck, “aber die Trophäenjäger kamen viel zu selten. Da gab es kein Gleichgewicht zwischen Wald und Wild. Wenn wir den Bestand nicht kontrollieren, wächst hier aber nie ein gesunder Wald!” So sehen es auch die Forstbehörde und die Bergwald-Projektleitung. Und so kommt es, dass die wuchtigen Wiedehopf-Hauen der bunten Truppe, dazu eine Motorsäge und zwei Spitzhacken, eine tiefe Pfadspur in den Bergboden fräsen. Sie führt zu einem Hochsitz, den Keck und drei Bergwaldler aus Rundhölzern und Brettern zimmern.

Der Versucher winkt mit Würsteln

Hochsitz- und Steigbau sind echte Knochenarbeit. Armdicke Wurzeln sind dem Weg im Weg, außerdem bierkastengroße Felsblöcke. Wenn die Spitzhacke hier einschlägt, spritzen Splitter und Funken, daneben verhakt sie sich im durchwurzelten Erdreich. Es riecht nach Harz und Humus, die Mittagssonne röstet den lichten Südhang. Als Theresa und Katharina endlich die Stiele ihrer Hauen loslassen, dauert es ein paar Sekunden, bevor sie die verkrampften Finger wieder ganz ausstrecken können. Doch neue Erfahrungen gehören zum Bergwald-Konzept, und für die beiden Studentinnen heißt das jetzt auch: Feuer machen, zum ersten Mal, damit es mittags eine dicke Suppe gibt. Sie haben dafür ein kleines Loch in den Waldboden gegraben, sie pusten und husten beim Anblasen, und nach wiederholten Versuchen dampft der Kessel irgendwann.

Mittagspause. Gefüllte Blechnäpfe werden durchgereicht, die Freiwilligen lassen sich ächzend ins Gras und auf Baumstümpfe sinken. Doch Irgendwer hat die Gewürze im Tal vergessen, und so ist die Suppe eine ziemlich fade Angelegenheit. Als Jäger Keck ein Bündel Landjäger-Würstl in die Luft hält und anbietet, wird er zum Versucher. Längst nicht alle Bergwaldler sind konsequente Vegetarier, und die Suppe, naja… Fünf mäuschenstille Sekunden lang kämpfen Appetit und Ethik um den Sieg, dann steckt Keck die Würste wieder ein, zuckt die Schultern und lacht: “Ist ja schon gut – ich hab´s halt nur anbieten wollen!”

Die letzten 50 Meter des Steigs erreichen den Hochsitz um kurz nach Drei am letzten Arbeitstag. Der Schutzanstrich der Holzstangen glänzt noch feucht in der Spätsommersonne, doch Förster Henning hat soeben die 200 Meter Trampelpfad abgeschritten und für gut befunden. Die Truppe hat ihren Arbeitsauftrag erfüllt und räumt auf. 400 junge Bäume, zweihundert Meter Steig und ein Hochsitz bleiben in der Gemeinde Hindelang. Was den Freiwilligen bleibt? Bei einem Humpen Kaffee auf der nahe gelegenen Hirschalpe – Jagdgenosse Keck hat hochzufrieden eine Runde springen lassen – zieht Sibylle, eigentlich Ergotherapeutin, ihre Bilanz: “Eine Woche in so einer Gemeinschaft zu sein und ein kleines bisschen die Welt zu retten, das passt. Ich komme aus der Routine raus und kann einfach körperlich draußen arbeiten – zusammen mit Alten und Jungen, Männern und Frauen, und die Produktivität ist nicht Alles. Aber ganz ehrlich: nach einer Woche freue ich mich schon auf die eigene Dusche!” Die Dusche wird die Reste von Walderde mit sich nehmen, die Waschmaschine den Humus aus der Arbeitshose waschen. Doch ganz drinnen, da hat der Wald sich längst festgesetzt: Sibylle ist zum siebten Mal dabei.

BERGWALDPROJEKT

Das Bergwaldprojekt ist ein Kind des Waldsterbens. Ende der 80er Jahre wurde es in der Schweiz als Stiftung gegründet, in Deutschland ist es seit 1993 ein gemeinnütziger Verein. Die zentrale These der Gründer: Ein gesunder Wald ist für das Leben der Menschen unabdingbar – und er wird sich nicht von selbst entwickeln. Anfangs ging es bei den Freiwilligen-Einsätzen vor allem um den Schutzwald oberhalb der Ortschaften im Gebirge, der die Siedlungen vor Erdrutschen und Lawinen schützt. Doch Bewusstsein und Tätigkeitsfelder entwickelten sich weiter: bei etwa 70 Einsätzen in ganz Deutschland, von der Nordsee bis zum Allgäu, arbeiten die Teilnehmer üblicherweise eine Woche an einer gesunden Natur. Sie renaturieren Moore, pflanzen standortgerechte Bäume oder schützen den Wald vor Wildschäden.

Über 1.000 Laien opfern dafür jährlich eine Urlaubswoche. Sie arbeiten körperlich schwer, schlafen in einfachen Gemeinschaftsunterkünften im Wald und helfen in der vegetarischen Küche. Die Anreise zahlen sie selbst, Unterkunft und Verpflegung sind frei. Am Ende jeder Projektwoche steht eine naturkundliche Exkursion im Einsatzgebiet. Mehrere hundert Teilnehmer haben auch die Firmen- und Schulprojekte.

Welche Einsätze das Bergwaldprojekt angeht, entscheiden die hauptamtlichen Mitarbeiter. Obwohl die Freiwilligen umsonst arbeiten und der jeweilige Auftraggeber – meist öffentliche Stellen – für die Einsätze bezahlt, ist das Bergwaldprojekt überwiegend auf Geld von außen angewiesen: Beiträge der Fördermitglieder sowie Spenden und Gelder aus Stiftungen finanzieren die Waldretter. Inhaltlich geht es dem Verein keineswegs nur um den praktischen Nutzen des jeweiligen Arbeitseinsatzes: Das Bergwaldprojekt versteht sich nicht als Unternehmen der Forstwirtschaft, sondern als naturkundliche Bildungsmaßnahme, die bei den Teilnehmern soviel bewirkt wie im Gelände. Sie sollen ein tieferes Verständnis vom Wald und den komplexen Zusammenhängen der Natur gewinnen. Neben den Einsätzen für Freiwillige ab 18 Jahren bietet das Bergwaldprojekt auch Familienprojekte mit Kinderbetreuung an.

www.bergwaldprojekt.de

erschienen in:
STERN – Gesund Leben